AM KÜCHENTISCH

■ Zwei Kurzfilme von Martin Scorsese im Sputnik

Daß Martin Scorsese der mißratene, aber nicht verlorene Sohn italo-amerikanischer Einwanderer der zweiten Generation ist, dürfte spätestens seit der diesjährigen Wiederaufführung seiner beiden früheren Mega-Filme Who's That Knocking At My Door und Mean Streets bekannt sein, in denen sich Scorsese mit Wucht gegen die moralische Zwangsjacke katholischer Prägung auflehnt, die den jungen, längst amerikanisierten Italo-Amerikanern übergestülpt wird, und die passen soll auf Biegen und Brechen. Gerade weil Scorsese sich in seinen Filmen von dem Zwang der hierarchischen Familienbande, aber nicht von deren eigentlichen Werten lossagen wollte, sind sie exemplarische Auseinandersetzungen mit der persönlichen Suche nach Selbstbestimmung und Identität.

Italian-American ist ein kleines, ohne großen Aufwand abgedrehtes 50minütiges „Home-Movie“, das Scorsese während der Dreharbeiten zu Mean Streets an einem Tag in den Kasten brachte; ein Film, der von der Lebens- und Erinnerungslust zweier Schauspieler getragen ist, die sich kaum an Scorseses Regieanweisungen sprich Fragen halten, wenn sie einmal loslegen und erzählen und erzählen: Vater und Mutter Scorsese. Wer da aufschlußreiches Material über Scorseses Familienhintergrund erwartet, wird enttäuscht sein, allerhöchstens lassen sich gewisse Rückschlüsse ziehen aus dem Respekt und der Zurückhaltung, die Scorsese seinen Eltern zollt. Das einzige kleine Geheimnis, das da im Abspann gelüftet wird, ist Mamas Fleischklößchenrezept, aber um das auf die Reihe zu kriegen, ist mindestens Steno und mehrfaches Sehen des Films erforderlich.

Nach kurzer Aufwärmphase haben die Scorseses ihr anfangs etwas verkrampftes Locker-sein-wollen vor der Kamera abgelegt, und plaudern los, wie ihnen die Erinnerungen ins Gedächtnis purzeln: Geschichten über das Wie und Warum der Auswanderung ihrer Eltern, über die ersten Jahre der Entbehrung und des Elends, das Aufeinandertreffen verschiedener Einwandererkulturen, das fiebrige Aufgeregtsein bei ihrer Hochzeitsreise nach Italien. Die Zeit der großen Geschichtenerzähler in ihren Familien, als es noch kein Radio und Fernsehen gab, lebt durch sie wieder auf. Schade nur, daß man nicht erfährt, was die Eltern eigentlich von den Filmen ihres Sprößlings halten.

Vor einem ganz anderen Hintergrund entstand hingegen 1967 Scorseses Kurzfilm The Big Shave. Scorsese war damals in einer Künstlergruppe namens „Artists against the Vietnam War“ aktiv. Die sechs Minuten von The Big Shave sind ein knapper, pointierter Kommentar zum Blutvergießen der Amis in Vietnam im Namen von Freiheit, Ordnung und Demokratie: ein „kurzer amerikanischer Alptraum“. Ein junger Mann rasiert sich sorglos, während er aus unzähligen Schrammen und Schnitten im Gesicht blutet. Schließlich schneidet er sich die Gurgel durch.

DOA

„Mean Streets“ und „The Big Shave“ ab heute täglich um 20 Uhr im Sputnik-Südstern in der OF.