Vom Friedensengel zum Todesengel

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(Ein deutsches Schicksal: Kurt Gustav Wilckens, 21.45 Uhr, West 3) Kurt Gustav Wilckens war ein Freund der Armen, immer hilfsbereit, um Gerechtigkeit bemüht, gegen schreiendes Unrecht ankämpfend. Und er war Anarchist, ein Mann der Aktion. Als Arbeiter einer Fischfabrik füllte er den Edelfisch, der für die Reichen bestimmt war, in die Billig -Schachteln für die Märkte der Armenviertel und schickte die Abfälle per Luxuspackung in die Delikateß-Geschäfte. Solche kleinen Racheakte gegenüber der dekadenten Oberschicht Argentiniens brachten dem deutschen Einwanderer unter den argentinischen Kollegen rasch den Ruf „Gringo Gaucho“ ein.

Wie sich der friedliebende Wilckens zum Todesengel wandelte, zeigt das Porträt von Osvaldo Bayer und Frieder Wagner. Nach dem Landarbeiteraufstand in Patagonien, der 1921 losbrach und von der Armee blutig niedergeschlagen wurde, fand Wilckens keine Ruhe mehr. Die Massenexekutionen, denen streikende Genossen zum Opfer gefallen waren, und das rigorose Vorgehen der Truppen festigten in Wilckens das Bild einer militärischen Kaste, die bereit war, immer wieder über Leichenberge zu gehen.

Am 27. Januar 1923 explodiert auf dem Bürgersteig am Plaza Italia in Buenos Aires eine Bombe, aus dem Pulverdampf tritt der Deutsche hervor und erschießt Oberstleutnant Varela, den verantwortlichen Befehlshaber bei der Niederschlagung des Aufstandes - allen bekannt als „Schlächter von Patagonien“. Wilckens verübt den Mordanschlag nicht, um Vergeltung zu üben, sondern um ein Zeichen zu setzen, daß die Militärs nicht widerspruchslos herrschen können.

Osvaldo Bayers Spurensuche ist auch ein Dokument für den unverändert hohen Einfluß der Armee in der noch jungen argentinischen Demokratie. Osvaldo Bayer hatte 1973 das Drehbuch zu dem Spielfilm Aufstand in Patagonien geschrieben, der unter der Militärdiktatur verboten war und auf der Berlinale 1974 den Silbernen Bären erhielt. Wer glaubte, daß der Autor heute - nach Jahren des Exils - den zweiten Teil des Films über den Landarbeiteraufstand realisieren durfte, hat die Stärke der Generäle unterschätzt. An einen Spielfilm war nicht zu denken. Die Dokumentation ist aber kein Abfallprodukt, sondern ein eigenständiger Beitrag, der von der anarchistischen Arbeiterbewegung und über „El Heroe“ Kurt Gustav Wilckens erzählt.

(chrib)