Gleichgültig ob der Nachbar stirbt

Der chilenische Gewerkschaftsführer Manuel Bustos zu den Perspektiven nach Pinochet  ■ I N T E R V I E W

taz: Welchen Einfluß hat die Politik der Diktatur auf das Bewußtsein der Arbeiter gehabt?

Manuel Bustos: Unter den Arbeitern herrscht heute eine große Mutlosigkeit, wenig Solidaritätsgeist. Die Diktatur hat in diesen 16 Jahren mit dem Individualismus gespielt. Hier und heute von Solidarität öffentlich zu sprechen wird ja fast wie eine Schande empfunden. Die Leute sagen sich, wer bin ich denn, daß ich nicht für mich alleine sorgen kann. Es ist ihnen gleichgültig, ob in der gleichen Zeit ihr Nachbar an Hunger stirbt. Dieses Problem müssen wir mit einer neuen Botschaft korrigieren, die mit der Wiederherstellung der Demokratie einhergehen muß; einer Botschaft der Solidarität, der Einheit, der gegenseitigen Hilfe und des Verständnisses.

Nach der von allen erwarteten Amtsübernahme der Präsidentschaft durch den Kandidaten der Opposition, dem Christdemokraten Patricio Aylwin, werden viele Probleme zu lösen sein. Eines der dringendsten ist das soziale Problem. Welche Rolle wird die CUT in diesem Redemokratisierungsprozeß spielen?

In einigen Bereichen wie der Gesundheitspolitik, dem Wohnungsbau, der Erziehung und der Kultur stimmen wir mit den Parteien der Concertacion überein. Im Wirtschaftsbereich haben wir mit einigen Vertretern Probleme, aber auf der Grundlage einer rationalen Politik werden wir auch hier zu Übereinkünften kommen. Für uns sind folgende Punkte wichtig, die eine demokratische Regierung erfüllen sollte: erstens die Wiedererlangung einer realen Lohnsteigerung, denn die Löhne liegen heute um 18 Prozent unter denen von 1970; zweitens die Mitbestimmung der Arbeiter und Angestellten in den Betrieben, für die die Regierung Mechanismen entwickeln muß; drittens die Lösung der Probleme im Gesundheitswesen, von denen die Arbeiter betroffen sind; und viertens ein Beschäftigungsprogramm, etwa im Straßenbau und der Infrastruktur, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Auch wollen wir mit der zukünftigen Regierung über die Erhöhung des Mindestlohnes von heute 18.000 Pesos (65 US-Dollar, d.Red.) auf etwas mehr als 28.000 Pesos (100 US-Dollar) sprechen. Im rechtlichen Bereich muß die Regierung eine Änderung des Arbeits- und Streikrechts herbeiführen, das uns bisher die Hände gebunden hat. Es muß uns ermöglicht werden, direkt auf nationaler Ebene mit den Unternehmern zu verhandeln. (Das gültige Streikrecht der Militärregierung verlagert Verhandlungen nur auf Betriebsebene, d.Red.)

Gesetzt der Fall, die Kandidaten der Rechten, Francisco Javier Errazuriz oder der ehemalige Wirtschaftsminister der Militärregierung Hernan Buechi, gewinnen am 14.Dezember die Wahl?

Wir glauben nicht daran. In einer sauberen und demokratischen Wahl haben beide keine Chance, die Wahl zu gewinnen. Sollte es trotzdem so sein, werden beide Kandidaten lediglich die alte Politik, die Politik Pinochets fortsetzen. Es gäbe nichts Ungünstigeres für Chile als der Sieg eines der beiden Kandidaten. Denn das wäre eine gute Entschuldigung für jene bewaffneten Gruppen, die glauben, man könne sich nur mit Kugeln gegen die Mächtigen wehren.

Was wird mit Pinochet nach der Wahl geschehen? Wird er, wie es die Verfassung zuläßt und er vorhat, Oberkommandierender des Heeres bleiben?

Warten wir den 14.März ab, an dem der Präsident sein Amt übernimmt. Für Pinochet wird es sehr unangenehm werden, das Oberkommando des Heeres beizubehalten. Wenn er auch nur einen Funken politischer Intelligenz besitzt, sollte er zurücktreten und nach Hause gehen. Was mit Pinochet aber geschieht ist, daß er Angst hat. Angst vor den Untersuchungen über die Menschenrechtsverletzungen, die auf ihn zukommen werden. Er will sich hinter der Funktion des Oberkommandierenden verschanzen, um so den Untersuchungen zu entgehen. Trotzdem bin ich der Auffassung, daß die demokratische Regierung alles untersuchen sollte, was in den Jahren der Diktatur geschehen ist. Schon um das Ansehen der Streitkräfte, ihre Glaubwürdigkeit wiederherzustellen, muß Pinochet zurücktreten. Eine demokratische Regierung sollte alle verfassungsgemäßen Möglichkeiten ausschöpfen, um Pinochet zu verdrängen. Sollte sie gar die Zweidrittelmehrheit im Senat erhalten, befürworte ich, daß eine neue Regierung die nötigen Verfassungsänderungen herbeiführt, die die Oberkommandierenden der Streitkräfte wieder zu Vertrauten des Präsidenten macht.

Interview: Severin Weiland