Verbannung in der „Freiheitsstraße“

Seit 387 Tagen lebt der chilenische Gewerkschaftsführer Manuel Bustos in seinem Verbannungsort Parral / Beim Volksentscheid im letzten Jahr konnte Pinochet in diesem Bezirk noch eine klare Mehrheit erringen / Bustos will Gewerkschaftsbasis aufbauen / Am 27.Oktober besucht ihn Walesa im Rahmen einer Chile-Reise  ■  Von Severin Weiland

„Avenida Libertad“ (Freiheit), so heißen wohl viele Straßen in Chile. Doch hier in Parral, im Haus Nummer 669, könnte der Name nicht deutlicher benennen, wonach sich Manuel Bustos (44) seit 382 Tagen Verbannung am stärksten sehnt. Im September vergangenen Jahres wurden der Gewerkschaftsführer des Dachverbandes von 81 chilenischen Gewerkschaften mit derzeit 428.000 Mitgliedern, der Central Unitaria de Trabajadores (CUT), und ihr Vizepräsident Arturo Martinez wegen der Ausrufung des Generalstreiks vom 7.Oktober 1987 zu 541 Tagen Gefängnis verurteilt. Nach der Berufung wurde das Urteil in 541 Tage Verbannung umgewandelt.

Unmittelbar nach der Verlesung des Urteils wurden beide von der Hauptstadt Santiago in verschiedene Himmelsrichtungen verlegt: Martinez in den 1.000 Kilometer nördlich gelegenen Wüstenort Chanaral, Bustos 400 Kilometer südlich nach Parral. Hier in der Provinzstadt, die hauptsächlich von der Landwirtschaft und einigen Sägewerken lebt, wohnt Bustos im Haus des Gemeindepfarrers. Seine Bewegungsfreiheit endet an der Grenze der 38.000 Einwohner zählenden Stadt. Zu Beginn der Verbannung mußte er sich täglich zweimal auf der Polizeidienststelle melden, morgens um neun und abends um sechs. Seit kurzem braucht er dort nur noch um zwölf Uhr mittags zu erscheinen. Hoffnung auf eine vorzeitige Freilassung? „Nein“, sagt er, die gebe es nicht. Die Militärregierung habe sie über die Gerichte verurteilen lassen, und alle rechtlichen Möglichkeiten seien ausgeschöpft.

Wasserwerfer als Antwort

Vertreter der CUT, die am 15.September dennoch versuchten, dem Obersten Gerichtshof in Santiago eine Petition mit der Bitte um vorzeitige Beendigung der Verbannung der beiden Gewerkschafter zu überreichen, erhielten auf dem Weg zum Gerichtshof eine deutliche Antwort des Regimes: Es setzte Wasserwerfer ein. So werden die beiden einzigen derzeit Verbannten in Chile wohl erst in der Woche zwischen dem 20. und 26.Februar nächsten Jahres, wie vom Urteil vorgesehen, nach Santiago zurückkehren können. Jetzt hat der polnische Gewerkschaftsführer Lech Walesa angekündigt, er werde Bustos am 27. Oktober im Rahmen einer Chile-Reise besuchen.

Die größte Belastung stelle die Verbannung für seine Familie dar, erklärt Bustos. An jedem Wochenende kommt seine Frau aus Santiago zu Besuch, wo sie unter der Woche in einer Fabrik arbeitet. Manchmal begleiten sie auch die Kinder, zwei Töchter und ein Sohn. Das Frustrierendste an der Verbannung sei neben der fehlenden Familie die völlige finanzielle Abhängigkeit von seinen Arbeitskollegen in der Textilfabrik Suma in Santiago. Dort, wo er 23 Jahre als Mechaniker gearbeitet hat und Vorsitzender der Betriebsgewerkschaft ist, sammeln seine Kollegen das Geld, mit dem er Haus, Essen und Kleidung in Parral bezahlt.

Schließlich belastet ihn, daß er das Amt des Vorsitzenden der erst im August letzten Jahres neugegründeten CUT nicht ausüben kann. „Und das alles in einer Zeit, in der wir wichtige Gespräche mit den Parteien der Opposition über die künftige Politik führen“, sagt er.

Am Grundsatzpapier der in der Concertacion zusammengeschlossenen 17 Oppositionsparteien für die Präsidentschaftswahlen am 14.Dezember haben Vertreter der CUT mitgewirkt. Zwar unterrichtet ihn sein Stellvertreter in Santiago, Diego Olivares, ein persönlicher Freund, über alle wichtigen Entscheidungen, „aber es ist doch nicht dasselbe, ob du oder ein anderer für dich am Verhandlungstisch sitzt“.

In Parral macht Bustos derweil, was er seit 1969 tut: politisch arbeiten. Im örtlichen Gebäude der beiden einzigen Gewerkschaften der Stadt, die der Lehrer und der Arbeiter einer italienischen Konservenfabrik, hält er Fortbildungskurse in Arbeitsrecht. Vorrang hat aber derzeit die Arbeit für die Concertacion, deren Sieg im Bezirk Parral mit seinen 80.000 Wählerstimmen keineswegs sicher ist. Immerhin war der Bezirk einer der wenigen beim Plebiszit im Oktober letzten Jahres, in dem der Diktator Pinochet eine Mehrheit erringen konnte - mit deutlichen 62 Prozent. „Dies ist ein sehr, sehr schwieriger Bezirk“, sagt Bustos, die Leute seien hier schon immer konservativer gewesen. Doch Bustos wäre nicht Gewerkschaftsführer, glaubte er nicht daran, auch in Parral die Menschen überzeugen zu können.

Einer, der nie aufgab

Seine Biographie liest sich wie die eines Mannes, der nie aufgegeben hat, und ist gleichzeitig ein Stück chilenischer Gewerkschaftsgeschichte in 16 Jahren Militärdiktatur. Ein Tag nach dem Putsch vom 11.September 1973 als Mitglied der alten, von den Militärs kurz darauf verbotenen CUT verhaftet und ins Nationalstadion gebracht, kam er im Dezember 1974 mit Hilfe der katholischen Kirche wieder frei.

Als 1975 unter dem Schutz der Kirche verschiedene Gewerkschafter die Coordinadora Nacional de Sindicatos (CNS) gründeten, war Bustos als führendes Mitglied dabei. Ein Jahr später ließen ihn die Militärs zum zweiten Mal verhaften, nicht zum letzten Mal. In den Jahren 1977, 1979, 1981, 1985 und 1987 wurde er festgenommen und ins Gefängnis geworfen, manchmal, wie 1979, bis zu neun Monate.

Und dazwischen blieb ihm, wie so vielen seiner Landsleute, auch das Exil nicht erspart. Im Dezember 1982 schob ihn die Regierung wegen der Beteiligung an einer der bis dahin größten Demonstration gegen die Wirtschaftspolitik der Militärs nach Brasilien ab. Lediglich seine damals hochschwangere Frau, die in ihrem späteren Exilland Italien einen Sohn zur Welt brachte, begleitete ihn, während die Töchter in Chile blieben. Nach einem Jahr gerichtlicher Auseinandersetzungen und ausländischen Drucks konnte die Familie wieder zurückkehren. „In 16 Jahren Militärdiktatur“, resümiert Bustos, „habe ich zwei Jahre und acht Monate Gefängnis, ein Jahr Exil und jetzt 18 Monate Verbannung erlebt, insgesamt also fast fünf Jahre. Aber“, fügt er hinzu, „schlimmer als die Verbannung ist das Exil.“