Krise des Demokratischen Zentralismus

■ Die SED muß sich politisieren

Demokratischer Zentralismus, formales Organisationsprinzip der SED, setzt eine Führung voraus, die in der Lage ist, der Partei eine Linie vorzugeben. Daran fehlt es. Deshalb scheren einzelne Funktionäre aus. Die Politik der Wortführer im Politbüro besteht gegenwärtig darin, mit „China“ zu drohen. Sollten sie solches Reden ernsthaft als Handlungsanleitung meinen, dann müßten sie verrückt geworden sein. Das aber ist unwahrscheinlich. So bleibt eine Drohung, die vor allem die Unfähigkeit der SED-Führung demonstriert, eine politische Antwort auf die Krise zu finden. Mit Sympathiebekundungen für Li Peng und andere ist die Lage etwa in Leipzig nicht unter Kontrolle zu halten.

Parteikader, die zu dicht an den Ereignissen sind, als daß sie Politik auf Deklarationen beschränken könnten, sind angesichts dieser Situation gefordert, selbst die Initiative zu ergreifen. In der sächsischen SED haben sie das bereits getan. Das ist kein Bruch des Demokratischen Zentralismus, der in Wirklichkeit immer ein bürokratischer Zentralismus war, sondern Antwort darauf, daß dieses Organisationsprinzip gegenwärtig nicht funktioniert. Daß jetzt - bisher noch unbestätigt - davon gesprochen wird, das nächste Plenum des Zentralkomitees solle vorgezogen werden, ist ein Hinweis darauf, daß die Unzufriedenheit über die Politikunfähigkeit ihrer Führung bis weit in den Apparat der SED hineinreicht. Die Widersprüchlichkeit in der Berichterstattung der DDR -Medien, in der die zu Zehntausenden demonstrierenden Bürger abwechseln als „Rowdies“ denunziert und dann wieder als Menschen mit ernsthaften Anliegen dargestellt werden, dokumentiert, daß es so nicht weiter geht - auch aus der Sicht der Propagandisten der Partei. Die Partei wird sich politisieren müssen, auch ihre Führung wird sich der inhaltlichen Auseinandersetzung nicht mehr länger entziehen können.

Walter Süß