Justiz: Gentechnikerin ja, Psychiater nein

■ Um Schuld eines Mörders und Vergewaltigers zu beweisen, bestellte Landgericht Verden „genetischen Fingerabdruck“

Am Landgericht Verden wird seit drei Verhandlungstagen gegen einen mutmaßlichen Mörder und Vergewaltiger verhandelt, der angibt, an die Tatnacht keinerlei Erinnerung zu haben. Der 26jährige Umschüler Andreas W. ist angeklagt, eine 78jährige Frau aus seiner dörflichen Nachbarschaft gefesselt, geknebelt, vergewaltigt und getötet zu haben. Der sexuelle Gewalttäter hatte zudem vor Ort eine Brandstiftung und einen Raub begangen und einen Kothaufen hinterlassen. Andreas W., bereits am Tag nach der Tat verhaftet, machte es Polizei und Justiz nicht einfach. Andreas W., von seinen Kumpels als „cool“ und „schwer zugänglich“ charakterisiert, verweigerte 16 Monate lang die Aussage.

Doch Indizien sprachen gegen ihn. Er soll seinen Fußabdruck auf dem Grundstück zweifelsfrei hinterlassen, sowie Schmuck und Uhren aus dem Besitz des Opfers am Morgen nach der Tat weiter

gegeben bzw. bei der Verhaftung noch bei sich getragen haben.

Um die Indizienkette weiter zu erhärten, hatte das Gericht in einem Londoner Labor ein Gutachten auf gentechnologischer Basis bestellt. Bei dieser umstrittenen gentechischen Methode werden Blut-, Haut-, Haarwurzel-oder Spermapartikel, die am Tatort gefunden wurden, auf die Erbsubstanz DNA untersucht. Seit 1985 ist es möglich, daraus individuell charakteristische Streifenmuster zu erzeugen, den sogenannten „genetischen Fingerabdruck“ des Täters. Dieser wird mit dem der verdächtigen Personen abgeglichen. In den USA, wo diese Methode weit verbreitet ist, ist Kritik an der Zuverlässigkeit der Laborarbeiten aufgekommen. Am vergangenen Dienstag hatte das Bundeskriminalamt bekanntgegeben, die DNA-Analyse „im großen Maßstab“ zum Einsatz bringen zu wollen - trotz fehlender Rechtsgrundlage.

Im Verdener Mordprozeß gegen Andreas W. hatte die britische Genetikerin Dr. Gillian Rysiecki am zweiten Verhandlungstag ihren Auftritt. Vergeblich hatte Verteidiger Dr. Jochen Heidemeier dem Mitwirken der Gutachterin widersprochen. Dr. Gillian Rysiecki überzeugte ihre ZuhörerInnen von der geringen Irrtumswahrscheinlichkeit ihrer Ergebnisse (1:372 000). Sie war sicher: Die Spermaspuren, die beim Opfer gefunden worden waren, waren die des Andreas W.

Im Anschluß an die GutachterInnen meldete sich überraschend der Angeklagte zu Wort: Er wolle nicht länger ausschließen, daß er der Täter sei. Doch könne er sich überhaupt nicht an den Zeitraum der Tat erinnern. Er wisse nur noch, daß er am Vorabend in eine Diskothek gefahren sei, mehrere Biere getrunken, Joints geraucht und eine Tablette unbekannter Wirkung genommen habe.

Genauso offen wie die Wir

kung der besagten „Tablette“ blieb auch am dritten Prozeßtag das Motiv zur Tat. Junge Leute aus der Clique des Andreas W. hatten „keine Erklärung dafür gefunden“. Auch sein Bewährungshelfer hatte „ihm die Tat nicht zugetraut. Beim besten Willen nicht. - Ich bin aus allen Wolken gefallen.“ Er hab den früher wegen einer Serie von Einbrüchen zu einer Haftstrafe verurteilten Andreas W. als „normal und sehr unauffällig erlebt“.

Der psychiatrische Gutachter Dr. med. Winterscheid urteilte ähnlich und wollte Andreas W. keine „erheblich verminderte Schuldfähigkeit“ zuerkennen.

Im Gerichtssaal schwebte spätestens seit seinem Gutachten das „Urteil“ lebenslänglich und der Verdacht, Andreas W. habe einen seiner üblichen Einbrüche bei der alten Frau begehen wollen und sie, weil sie ihn dabei überraschte, ermordet.

Ein Urteil wäre wohl auch

schon gesprochen, wenn nicht der Verteidiger des Angeklagten, Dr. Jochen Heidemeier, versuchen würde, das Verfahren durch Beweisanträge in eine andere Richtung zu lenken. Er verlangte, den renommierten Hamburger Sexualwissenschaftler Prof. Dr. Eberhard Schorsch als Gutachter hinzuzuziehen. Nur ein Spezialist wie Schorsch könne die „schwere seelische Abartigkeit“ seines Mandanten erkennen, sowie überhaupt das Vertrauen seines Mandanten gewinnen. Schließlich sei nicht geklärt, aus welchem Motiv heraus sein Mandant die Frau brutal vergewaltigt habe und warum er eine Kothaufen hinterlassen habe. Nach langer Beratung lehnte das Gericht unter Vorsitz des Landgerichtsspräsidenten Heinrich Beckmann diesen Beweisantrag ab. Es stimmte nur zu, den Mann zu hören, der dem Angeklagten aufgrund psychischer Gründe „Wehrunfähigkeit“ bescheinigt hatte.

B.D.