DOPPELTER GNOM IN HALBTOTALE

■ Das Totale Theater Berlin zeigt sein erstes Stück in der TanzTangente

Die erste Inszenierung des Totalen Theaters Berlin beginnt ganz langsam. Aiga Keller betritt die Bühne in schlichtem weißem Hemd und in einer Frackhose, die Hosenträger am Herabrutschen hindern. Gebückt schaut sie um sich und spreizt die Finger ab. Ihr Gesicht ist in einem Grinsen erstarrt, das nichts als Unsicherheit ausdrückt. Aiga Keller spielt einen Gnom, der sein Leben lang in einem Zirkus seine Kleine zur Schau gestellt hat.

Das Totale Theater Berlin ist jung. Ganze sechs Wochen hatte die Gruppe vor der Premiere von der „Geschichte vom Gnom Valentin und dessen Eintritt in die wirkliche Welt“ am 29.9. geprobt. In der endlosen Liste freier Theatergruppen rauscht der Name erst einmal an den Ohren vorbei, so lässig kommt die Alliteration über die Lippen. Irgendwann bleibt aber ein Mißklang hängen. Wollen wir das totale Theater? Zunächst natürlich Subventionen, ohne die sich in größerem Stil gar nichts aufbauen läßt. An eine schon geförderte Gruppe anschließen mochten sie sich nicht, weil sie da nicht genau ihr Ding hätten durchziehen können. Also gründeten sie eine neue Truppe, an Einzelpersonen wird ohnehin kein Geld vergeben. Sie hatten Glück. Die Produktion vom Gnom wurde mit Mitteln der Künstlerförderung des Landesamtes für zentrale soziale Bildung ermöglicht.

Um sich überhaupt noch von all den anderen abzuheben, die sich um die Geldtöpfe scharen, muß eine neue Gruppe schon eine ganz besondere Absicht verfolgen, zumindest postulieren. Das Totale Theater Berlin will denn auch, wenn nicht alles, so fast alles: Es ist die nunmehr „5.Association Group des Internationalen Laboratoriums für künstlerische Forschung und Zusammenarbeit, dessen Ziel es ist, Künstler verschiedener Länder zusammenzuführen, um ihnen in gemeinsamer Arbeit einen produktiven Austausch künstlerischer und kultureller Erfahrungen zu ermöglichen und das Ergebnis zu dieser Konfrontation dann der Öffentlichkeit zu präsentieren“. Was sonst?! Immerhin gibt es schon weitere „association groups“ in New York, London, Paris und Wien.

Berlin paßte da ganz gut in die Reihe. Die Wienerin Aiga Keller hatte es sich allerdings nicht so schwer vorgestellt, hier mit einem neuen Theater Fuß zu fassen. Obwohl es wohlwollende Rezensionen gab, sind die Vorstellungen nur spärlich besucht. Vielleicht liegt das an der unmöglichen Lage der TanzTangente über dem Busbahnhof im Steglitzer Kreisel, vielleicht daran, daß hauptsächlich AnhängerInnen der Tangentenleiterin Leonore Ickstedt das Publikum an diesem Platz bilden (aber ein anderer war nicht zu haben), vielleicht daran, daß jetzt im Herbst wieder alle auf die Bühnen strömen und das Angebot selbst für begeisterte Tanz und TheatergängerInnen kaum zu bewältigen ist.

Und auch die weiteren zu versammelnden MacherInnen haben sich in Berlin noch nicht eingefunden. So muß der studierte Clown und Schauspieler Markus Kupferblum, der das Projekt Totales Theater startete, noch aus Wien kommen und die Regie selber in die Hand nehmen, obwohl er die Berliner Abteilung lieber selbständig sehen würde. Kupferblum ist außerdem für die Einrichtung der Berliner Bühne zuständig und nicht zuletzt hat er das Stück geschrieben, nach Kurzgeschichten von Marcel Ayme.

Gnom Valentin fühlt sich im Zirkus ganz wohl - er kennt ja auch nichts anderes - und lebt einfach damit, daß der Zirkusdirektor ihn mit Bonbons belohnt und die Kunstreiterin um nichts in der Welt den Mann in ihm sehen will. Ein Leben wie aus „Freaks“, diesmal aber mit Aiga Keller in allen Rollen. Ganz Film sind auch die Zwischentitel mit rührend lakonischen Stellen aus Aymes Texten, die weiß auf schwarz auf die hintere Bühnenwand projiziert werden. Denn, um alles zu erzählen, reichen weder Kellers Pantomime noch ihre Figuren aus dem Modern Dance, so lebendig und bildhaft sie auch alles ausführt, noch ihre wilde Mimik.

Für den Wendepunkt hätte es allerdings keiner schriftlichen Erläuterung bedurft. Aiga Keller krümmt sich auf dem Boden, daß die Muskeln ihrer Arme zu explodieren drohen. Dazu stößt sie einen Schrei aus, der keinen Zweifel daran läßt, wie schmerzhaft es sein muß, mit 35 Jahren den Kindkörper plötzlich zu verlassen. Einsfünfundsiebzig groß, muß Valentin schauen, wo er im Zirkus unterkommt. Clowns, Jongleure und Seiltänzer versuchen, ihm die Kniffe der Artisten beizubringen - vergeblich. Als Keller sich in ihrer Eigenschaft als zigarreschmauchender Direktor selbst hinausschmeißt, läßt das Licht aus den Strahlern zu ihren Füßen ihr Gesicht zu einer feisten Maske mutieren. Aber über die Wände huscht ihr Schatten als der einer eleganten Frau. Marlene Dietrich ist nicht mehr weit. Valentin muß in die große, weite Welt hinaus. Und dann passiert der große Bruch. Aber nicht deshalb.

Vielleicht dachte Kupferblum, daß, wenn er selber schon so viel machen muß, auch Aiga Keller ordentlich zu tun haben sollte. Schluß ist mit Tanz und Pantomime und Zwischentiteln, Licht und Schatten - ab sofort wird pures Sprechtheater durchexerziert. Aiga Keller spielt jetzt durchgedrehte Französinnen, die Schauergeschichten aus ihrem Leben erzählen. Sie haben absolut nichts miteinander zu tun. Denn daß Valentin all diesen Menschen begegnet, ist nur dem Programmheft zu entnehmen.

Und wie die Figur Valentin sich in der zweiten Hälfte des Stückes einfach in Luft aufgelöst hat, so verschwindet auch Aiga Keller einfach von der Bühne. Sie hinterläßt ein Stückchen so total ohne Schluß, daß es noch nicht einmal ein offenes Ende hat.

Claudia Wahjudi

In der TanzTangente, Kuligshofstraße4, noch vom 13. bis 15.Oktober, jeweils um 20.30Uhr.