Besänftigung ohne Reformen

Zur Erklärung des Politbüros der SED  ■ G A S T K O M M E N T A R

Während die Grenze zur CSSR und Polen durch ein Netz von Polizeikontrollen (auf der Straße und in den Zügen) immer dichter wird, will das Politbüro mit uns über Reisemöglichkeiten reden. Wir sollen unsere Reiseunmöglichkeiten verstehen lernen. Wenn die da oben den Dialog wollten, würden sie wenigstens die Fehler und Verbrechen der letzten Tage und Monate korrigieren: zum Beispiel die sowjetische Zeitschrift 'Sputnik‘ wieder zulassen, alle politischen Häftlinge entlassen und sich bei den am 7. und 8. Oktober grundlos verprügelten oder festgenommenen Menschen entschuldigen.

Die Kommentare in den Westmedien sind zurückhaltend, gemessen an dem, was DDR-Bürger reden. Die Bilder von den Ereignissen sind Beschönigung, gemessen an jenen möglichen Bildern, würden überall im Lande Kameras geduldet. Zum Beispiel am Gleisdreieck bei Werdau, einem Knotenpunkt verschiedener Zuglinien. Die Bereitschaftspolizei hetzte Hunde auf Leute, die auf Züge aus Prag Richtung Westen warteten und Gleise blockierten. Oder die Besetzung des Foyers der momentanen Spielstätte des Karl-Marx-Städter Theaters am 7. Oktober durch Kampfgruppen - eine Diskussion über gesellschaftliche Veränderungen unter Theatermitarbeitern sollte so verhindert werden. Der Dialog fällt den Mächtigen sehr schwer. Ihre Ausgrenzungsversuche kalkulieren mit der Sprachlosigkeit vieler. Man will mit allen reden - außer mit jenen, die zu präzisen Forderungen fähig sind. Selbst der differenziert urteilende Schriftsteller Hermann Kant lehnte es ab, für den Schweizer Rundfunk eine Diskussion mit mir zu führen.

Nein, der Westen ist nicht schuld an der Krisensituation in der DDR, er dämpft diese höchstens. Das Politbüro beklagt sich über Mißachtung des Völkerrechts und setzt selbst mehrere Verträge zeitweilig außer Kraft. Die Einreisebehinderungen für Westberliner, die Leipzig-Verbote für Journalisten, die bedarfsweise Störung zweier Westberliner Privatsender, beschlagnahmte Arbeitsmaterialien von akkreditierten Kamerateams zeugen nicht von Vertrauenswürdigkeit. Wer soll die Unterschrift der DDR unter einem internationalen Vertrag noch ernst nehmen?

Der Sozialismus stehe nicht zur Disposition - heißt es in der Erklärung. In Ordnung. Wohl aber die politische Macht jener, die längst fällige Reformen schon viel zu lange blockieren. Wer sich nicht mal von alten Tapeten trennen mag, braucht uns keine Totalsanierung vorzutäuschen. Die Erklärung des Politbüros ist der Versuch einer Besänftigung ohne Reformen.

Lutz Rathenow, Schriftsteller, Berlin (DDR)