Tapetenwechsel oder neue Tünche?

■ In der Erkärung des SED-Politbüros ist zum ersten Mal auch die Handschrift von Reformern erkennbar

Zwei Tage nach der Demonstration der 70.000 in Leipzig hat die SED-Spitze öffentlich reagiert. Nach einer zweitägigen Sitzung, zu der auch Mitglieder des ZKs hinzugezogen wurden, verabschiedete es eine Erklärung, die gestern in allen DDR -Zeitungen abgedruckt wurde. Sie enthält zwar nicht das erhoffte Dialogangebot an die Gesellschaft, das allein die politische Krise in der DDR beenden könnte. Doch dokumentiert der Text zum ersten Mal, daß es in der Führung der SED eine Reformfraktion gibt. Und das wird der Debatte in der gesamten Partei einen neuen Schub geben.

Der Text, der Mittwoch abend im DDR-Fernsehen verlesen und gestern in den DDR-Zeitungen veröffentlicht wurde, ist ein politischer Kompromiß zwischen Konservativen und Reformkräften. Augenfällig ist das zum Beispiel daran, daß die Flüchtlinge nicht mehr, wie noch vor wenigen Tagen, als „Verräter“ bezeichnet werden. In eher ruhigem Ton wird festgestellt, daß „es uns nicht gleichgültig (läßt), wenn sich Menschen, die hier arbeiteten und lebten, von unserer Deutschen Demokratischen Republik losgesagt haben. (...) Die Ursachen für ihren Schritt mögen vielfältig sein. Wir müssen und werden sie auch bei uns suchen, jeder an seinem Platz, wir alle gemeinsam.“ Statt dann aber eine Analyse dieser Ursachen zu beginnen, folgt im Text die alte Leier, die Flüchtlinge seien „Opfer einer großangelegten Provokation“.

Die Reformer sind noch recht weit davon entfernt, der Partei ihre Linie vorzugeben. Doch eins haben sie bei der erweiterten Sitzung des Politbüros offenbar geschafft: der Einsicht Raum zu geben, daß mit propagandistischen Phrasen die Krise nicht zu bewältigen ist. Am bedeutsamsten sind deshalb diejenigen Passagen der Erklärung, die die Themen des nächsten Plenums des Zentralkomitees vorgeben: wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, Versorgung, leistungsgerechte Bezahlung, Möglichkeiten der „engagierten Mitarbeit“ der Bürger, „lebensverbundene Medien“, Reisemöglichkeiten und Umweltpolitik. Das sind in der Tat die Bereiche, in denen sich bald etwas bewegen muß.

In schroffem Gegensatz dazu steht die Art, wie über diejenigen gesprochen wird, die mit ihrem Engagement durchgesetzt haben, daß die Staatspartei die gesellschaftlichen Probleme nicht mehr länger verdrängen kann. Da ist die Rede von „konterrevolutionären Attacken“, durch die „die Bürger mißbraucht“ würden, von „Konfrontation“ und Störung von „Ruhe und Ordnung“.

Zugleich wird - ganz im Reformerstil - behauptet: „Wir stellen uns der Diskussion.“ Fragt sich, wer da mit wem diskutieren soll. Denn noch etwas geht aus dem Text auch eindeutig hervor: Die Partei ist nicht bereit, die „Führung der SED“ in Frage stellen zu lassen.

Das Dokument vom Mittwoch zeigt, daß das gesellschaftliche Aufbegehren in der Parteispitze positive Resonanz gefunden hat. Zu einer wirklichen Beruhigung der Lage wird diese Entschließung nicht führen, aber Teile des Textes werden reformerischen Kräften als Argumentationsstütze dienen, sie werden die Debatte in der Partei vorantreiben. Das nächste ZK-Plenum, das für Anfang Dezember angesetzt ist, aber wahrscheinlich vorgezogen wird, könnte sehr lebendig werden. Spätestens dort müssen Reformkonzepte vorgelegt werden, und es wäre inzwischen schon erstaunlich, wenn es nicht auch zu Personalveränderungen an der Spitze käme.

Aus Moskau verlautet aus dem Umfeld der sowjetischen Delegation, die Gorbatschow zu der Jubelfeier nach Ost -Berlin begleitet hatte, daß im SED-Politbüro die Unterstützung für Honecker auf eine Stimme zusammengeschrumpft sei. Das berichtet im gestrigen Berliner 'Tagesspiegel‘ Uwe Engelbrecht, langjähriger Moskauer Korrespondent. Wie zuverlässig diese Informationen auch die Lage in der SED wiedergeben mögen - auf jeden Fall geben sie Aufschluß über die Stimmung in der KPdSU gegenüber ihrer „Bruderpartei“.

Für diejenigen aber, die bei Demonstrationen und in Bürgerrechtsgruppen auf Veränderung drängen, wird die „Erklärung“ wohl kaum Grund sein, in ihrem Engagement nun zurückzustecken. Im Gegenteil - es zeigt sich, daß dieses Engagement Chancen für eine wirkliche Veränderung in sich birgt.

Walter Süß