: Mein Überleben ein Versehen
■ Zu Raymond Federmans „die stimme im schrank“
So schnell dieser Wortschwall aus dem Schrank auch wieder versiegt, - nach 20 Seiten -, es handelt sich um ein Hauptwerk des bei uns mit den Romanen „Alles oder Nichts“, „Eine Liebesgeschichte oder sowas“ und „Die Nacht zum 21. Jahrhundert“ bekannt gewordenen amerikanisch-jüdischen Schriftstellers Raymond Federman. Seine Lebensgeschichte zirkuliert zwischen den Figuren aller seiner Romane und Erzählungen und diese Geschichte ist immer die gleiche, obwohl sie nie zur Gänze erzählt wird und aus verstreuten Teilversionen zusammengestückelt werden muß. An ihrem Anfang steht das zufällige Überleben eines französisch-jüdischen Jungen, Federman selbst, der vor dem KZ bewahrt wird. „die stimme im schrank“ spricht von diesem Anfang und legt damit Anlaß und Motor von Federmans Schreiben bloß. Wer diesen Schriftsteller schätzt, sollte „die stimme im schrank“ kaufen und dem Mann, der mit den vielen Federn spricht, lauschen. Er wird ein bestechendes Komprimat aller seiner Motive und stilistisch-experimentellen Vorlieben entdecken. Wer Federman noch nicht kennt, sollte diesen schmalen Band erst recht erwerben. Er sitzt dann an der Quelle und Inspiration seines ganzen Schaffens, quasi in der Mitte des Federmanschen Netzes, von wo aus er sich dessen gesamtem Werk nähern kann.
Raymond Federman wurde am 15. Mai 1928 in Paris geboren. Er selbst sagt jedoch, daß sein wirkliches Leben erst am 16. Juli 1942 begann. An jenem Tag, in Frankreich als 'le jour de la grande raffle‘ bekannt, wurden mehr als 12.000 Menschen, die von dem Vichy-Regime als staatenlos erklärt worden waren und einen gelben Stern tragen mußten, verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Auch Raymond Federmans Vater, seine Mutter und seine beiden Schwestern (denen „die stimme im schrank“ gewidmet ist) wurden verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sie umkamen. Er selbst überlebte, weil seine Mutter ihn in einen Wandschrank im Treppenhaus versteckte. In den Tagen darauf gelang es dem Kind, sich in die nichtbesetzte Zone durchzuschlagen und sich in der Landwirtschaft als Hilfsarbeiter zu verdingen. Im Mai 1945 kehrte Federman auf einem amerikanischen Panzer nach Paris zurück, 1947 ging er in die USA, nachdem sich die Hoffnung, die Familie käme in die alte Wohnung zurück, endgültig zerschlagen hatte.
In dem erst nach 1966 entstehenden schriftstellerischen Werk („Alles oder Nichts“, seine Erstveröffentlichung, erschien nach vielen Schwierigkeiten 1971 in den USA) kreist Federman, bei all seiner Lust am Experiment, am Vielgestaltigen und Komplexen, doch immer um ein zentrales Thema: was es heißt, in einer Welt nach dem Holocaust zu überleben und zu schreiben. Indem er dieses Problem angeht, konfrontiert er sich mit der Beziehung zwischen Fiktion und Autobiographie, dem Geschichten-Erzählen und der Geschichte und zieht ihre Unterschiede in Frage. In „die stimme im schrank“ taucht sein eigener Name in der Fiktion auf. Der Autor gesellt sich zum Personal seines Werkes: er wird absichtlich fiktiv. Die Form der Erzählung, wenn man sie so nennen kann, ist absolut streng: zwanzig Seiten mit je achtzehn Zeilen a 68 Anschlägen. Diese Form schafft Wortkästen, die auf der visuellen Ebene die claustrophobische Schilderung widerspiegeln. In dieser Restriktion ist kein Platz für eine Story, es gibt nur eine Stimme, die eines Jungen, der in einem Schrank versteckt ist, während seine Familie von deutschen Soldaten verschleppt wird. Diese Stimme spricht aus ihrem Versteck zu jemandem namens Federman, der immer wieder versucht hat, die Wahrheit über den Jungen und seine erdrückende Erfahrung zu sagen. Schließlich sind es zwei Stimmen, die sprechen. Auch Federman denkt an seiner elektrischen Schreibmaschine „selectricstud“ - über den federlosen Jungen nach, der er war und der, als er aus dem Schrank-Uterus tritt, seine zweite Geburt erfährt. Parallel zu dieser 'symbolischen Wiedergeburt‘ im Schrank stehen Reflexionen, wie man zu schreiben beginnen soll und wie sinnlos das Erzählen und Experimentieren letztlich ist. Aber der, der sprechend schreibt, kann nicht anders. Der Junge erhebt schwere Vorwürfe gegen ihn, „seine kotigen päckchen voll selbstbetrug ein überlebender der sich in verbaläußerungen auflöst.“ Er fordert ihn auf, zuzugeben, „daß seine dichtung der realität meiner vergangenheit nicht länger gerecht werden kann ich errötende sphinx scheiße das rätsel meiner geburt aus stattdessen erfindet er mir spielkameraden in seinem chaotischen vorhaben seiner unfähigkeit die wahrheit zu sagen.“ Immer wieder tauchen die Leitworte „fiasko“, „falsche erinnerung“ und „fluchtbuch“ auf, das der Junge „die gescheiterte beschreibung meines überlebens“ nennt. Federmans Sprach-Raum hat in diesem Text mehr 'Innerlichkeit‘ als sonst in seinem Werk, wo ein gespanntes Schweigen über die Vergangenheit vorherrscht. Hier stehen die Bedrohung und die Bedeutung dieser Vergangenheit für die 'reduzierte Generation‘, die, „die nicht als Lampenschirme endeten‘, im Mittelpunkt. Auch bei Federman ist der Holocaust wesentlicher Bestandteil seiner Identität. Wir sind in den letzten Jahren oft mit dem Holocaust konfrontiert worden. Als deutsche Leser reagieren wir betroffen, schuldbewußt, auch abwehrend, weil erschreckend ermüdet oder weil so betroffen, darauf. Aber im Gegensatz zu dem feierlichen Wiesel, dem verbiesterten Koszinski, den mythologisch überhöhenden A. Cohen oder C. Ozick hat Federman etwas Energisches, Robustes, Frisches. Er nötigt uns zu einer neuen Aufmerksamkeit. Auch in der unfaßbaren Negativität des Holocaust kann der Überlebende Federman es nicht lassen, sich noch im Bezeugen querzustellen und es mit Selbstironie zu demontieren. Er macht sich nichts vor. Er kann das Versehen seines Überlebens nicht akzeptieren. So tut er „als ob er sich mit dem als ob meiner existenz in ein zimmer einsperrt die geschichte unter gelächter erzählt doch sie leistet widerstand und trägt erst die verdrängungen der verdrängungen vor.“
Notabene: Es ist dem noch jungen Kellner-Verlag hoch anzurechnen, daß er das ursprünglich zweisprachig erschienene Werk („the voice in the closet/la voix dans le cabinet de debarras“) belassen und ihm die deutsche Übersetzung hinzugefügt hat. Der Leser kann also mit nicht unbeträchtlicher Lust zwischen den drei Versionen (die englische und französische stammen von Federman, auch hier auf den Spuren seines Vorbilds Samuel Beckett wandelnd) hin und herpendeln. Der Übersetzungsfron hat sich Peter Torberg mit Bravour und vom Meister abgesegneter Phantasie entledigt. Anfang November wird, ebenfalls in der Übersetzung von Peter Torberg, in der neuen LCB&DAAD-Reihe „Text und Porträt“ ein weiteres Buch von Raymond Federman erscheinen: „Playtexts“, mit vielen 1989 in Berlin entstandenen Gedichten und Texten und einer Folge Porträtfotos von Renate von Mangoldt.
Joachim Sartorius
Raymond Federman, die stimme im schrank, deutsch von Peter Torberg unter Mitarbeit von Silvia Morawetz, Rainer-Verlag, 32 DM
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