Geschichte erzählen

 ■  Natascha Wodins Roman „Einmal lebt‘ ich“

Keine Sekunde kam ich auf die Idee, die Geschichte könne erfunden, könne nicht die Lebensgeschichte der Erzählerin sein. Erst jetzt frage ich mich, ob der Betroffenentonfall nicht zu gut getroffen, die Leidenslitanei nicht zu virtuos aufgesagt wird, um nur echt zu sein. Solange ich Einmal lebt‘ ich las, erlag ich dem Sog dieser Lebensgeschichte, überließ mich willig der verzweifelten Wut einer hilflosen Solidarität. Ab und zu drückte mein strengeres Ich mir einen Bleistift in die Hand und hieß mich trivialste Ausrutscher wie “...durchdrang mich ein kalter Schauder“ kritisch unterstreichen, aber dann versackte ich wieder wollüstig im Leiden der geschundenen Barackenexistenz dieses mit Vater und Mutter aus Rußland geflohenen Mädchens.

Ein ungewöhnlicher Blick auf die frühen Jahre der Republik. Die Erzählerin wächst in einer Flüchtlingssiedlung auf. Ihre Mutter bringt sich um, ihr Vater verprügelt und verfolgt sie. Die Heranwachsende wird als „Russensau“, „Russenlusch“ beschimpft. Nach dem Krieg waren ihre Eltern nach Deutschland gekommen. Ihr Vater, so erfährt die Erzählerin, als sie - schon erwachsen - nach Rußland geht und Verwandte besucht, hatte mit den Deutschen kollaboriert; schlimmer noch, er hatte eine erste Frau - von der sie bis dahin nichts wußte -, und: „Mitten im Krieg, in dem die deutschen Judenmörder im Land wüten, verläßt mein Vater seine jüdische Frau und seine halbjüdischen Kinder und schlägt sich mit einem 'im wahrsten Sinne des Wortes unschuldigen Mädchen‘ auf die Seite der Nazis. Er setzt seine Familie nicht nur den Judenmördern aus, sondern auch der Vergeltungsrache, der Sippenhaft des stalinistischen Terrorregimes. Hat meine Mutter das gewußt? War auch das ein Grund ihres Verstummens gewesen, des Verstummens schließlich in seiner letztmöglichen Form?“

Solche Geschichten machen mit die Sogwirkung des Buches aus. Die extreme Situation macht die Normalität, in der wir alle aufwuchsen, deutlich. Wer hat schon einen russischen Nazikollaborateur zum Vater? Aber wir alle im und kurz nach dem Krieg Geborenen wissen, daß kaum einer unserer Väter nicht als ein Schlächter unter Schlächtern gehaust hat im Schlachthaus, im Europa der vierziger Jahre. Auch die Baracke: so wenig sie mit den sitzcouchgeschmückten Dreizimmerwohnungen, in denen die meisten von uns damals aufwuchsen, zu tun hat, so deutlich wird doch bei der Lektüre dieser extremen Geschichte, daß auch die meisten unserer Väter verlorene Existenzen waren, die arbeiteten, um zu vergessen, daß sie hätten totgeschlagen werden müssen, wenn es gerecht zuginge auf der Welt.

Daß wir das zwar allgemein wissen, aber nur in den seltensten Fällen konkret, also von unserem Vater, auch das haben wir mit der Erzählerin gemein. Das Gefühl, sich auf nichts verlassen zu können, die Unsicherheit über die eigene Herkunft, damit über sich selbst - die Psychoanalytiker mögen es als Schwierigkeiten der Ablösung beschreiben und als eine der großen Invarianten der psychischen Entwicklung seit es Familie gibt, begreifen -, aber Bücher wie das von Natascha Wodin machen deutlich, daß es historische Konstellationen gibt, in denen, nur wer keinen Kopf hat, frei von Schwindel ist.

Wir wissen nicht, ob es stimmt, wenn unsere Väter uns erzählen, sie hätten in Frankreich und Rußland, an den Fronten, an denen sie waren, immer nur in die Luft geschossen. Als Kinder glaubten wir es, dann erfuhren wir, daß der junge Mann, der unser Vater damals - vor unserer Geburt - noch war, an die Wunderwaffe des Führers, an diesen und den Nationalsozialismus geglaubt hatte.

Wie der Vater der Erzählerin nie von seiner Kollaboration erzählte, so erzählten viele unserer Väter uns nicht, was sie trieben, als sie noch Nazis waren. Der Schrecken, wenn wir es doch erfahren, rührt weniger her vom Entsetzen über das, was die Väter taten - zu ungenau sind in den meisten Fällen die Erzählungen; sehr gut auch das bei Natascha Wodin -, als aus der Ahnung, daß die Väter den Kindern etwas weitergegeben haben könnten von ihrem Nazikopf, ihrem Nazifleisch, ihrer Nazihaut. Wir erschrecken nicht über das, was wir über unseren Vater erfahren, sondern über die Ahnung von dem, was alles er uns eingeimpft haben könnte.

Soviel zum Sog, in den man leicht bei der Lektüre gerät. Das andere, das Fremde, ist nicht weniger interessant. Die multikulturelle Gesellschaft, die erst entstehen soll, hier sehen wir, wieviel davon schon Wirklichkeit ist. Natascha Wodin ist Deutsche, aber nicht nur und nicht von Anfang an: „Wie schnell sie vergessen hatten; nicht nur die, die sie umgebracht hatten, sondern die eigenen Toten, den eigenen Hunger, die eigenen Ruinen, die eigene Angst, die eigene Haut, die erst gerade dem Tod entronnen war. Es war, als hätten sie diese Haut durch Nyltest und Trevira ersetzt. Und ich wollte nichts mehr auf dieser Welt als so sein wie sie, ich wollte nichts mehr als diese Nyltest- und Trevirahaut, für die sie mich geliebt hätten und die ich mir nicht kaufen konnte. Ich wollte so sein wie sie, in meiner Deutschwerdung sah ich meine Menschwerdung, und es ist im Grunde die Geschichte dieser Verwechslung, die ich hier erzähle.“

Daß sie dann nicht einfach nur Deutsche, sondern deutsche Schriftstellerin geworden ist - belegt das nur ihren ganz persönlichen Übereifer, oder ist es nicht doch auch repräsentativ für die wilde Entschlossenheit, mit der, um dem Hunger zu entkommen, aus dem Trümmerfeld Deutschland gleich zwei der reichsten Länder der Welt erschaffen wurden?

A.W.

Natascha Wodin, Einmal lebt‘ ich, Luchterhand-Verlag, 237 Seiten, 29,80 DM