Das letzte Vehikel

■ Die letzte Phase der Menschheitsentwicklung führt von der Seßhaftigkeit zur Sesselhaft

Paul Virilio

In einem neuen Schwimmbad in Tokio gibt es ein Strömungsbekken, in dem die Badenden auf der Stelle schwimmen... Wer hineinsteigt, wird von einer aufgepeitschten Wasseroberfläche gehindert vorwärtszukommen; der Schwimmer braucht Bewegungsenergie, um auf der Stelle zu bleiben... Die Dynamik der Strömungen im japanischen Bassin dient wie beim Heimtrainer oder der falschherum benutzten Rolltreppe dazu, die Kampfschwimmer gegen eine Kraft antreten zu lassen, die den Raum in Gegenrichtung durchquert und die das olympische Becken ersetzt wie die Räder des Heimtrainers die Radrennbahn.

Wer hier trainiert ist also weniger ein Mobil als eine Insel, ein Trägheitspol. Wie im Theater konzentriert sich alles auf einen Ort, alles geschieht im privilegierten, zerdehnten Augenblick, dem Supplement der Weite und der langen Dauern. Statt Golfplatz Video-Performance, statt Rennstrecken Simulatoren. Der Raum verliert seine Ausdehnung, Trägheit verdrängt die Fortbewegung.

Eine ähnliche Tendenz läßt sich übrigens bei der Inszenierung der Museen beobachten. Raum und Zeit verhalten sich seit kurzem selbst in den umfangreichsten Ausstellungen umgekehrt proportional: doppelt solange Wege, halb soviel Muße...

Die Beschleunigung des Museumsbesuchs mißt sich nach der Länge der Hängeleisten für die Bilder: zuviel Raum, zuwenig Zeit; das Museum nimmt Ausmaße an, die die Werke nicht mehr füllen können. Sie versuchen noch, sich auszubreiten, sich zu entfalten in diesen unendlichen Flächen, die reizlos geworden sind wie die großen Perspektiven des klassischen Zeitalters.

Erbaut für bedeutende Werke, die frühere Besucher lange und aufmerksam betrachteten, werden diese Monumente derzeit zweckentfremdet durch die exzessive Eile des Betrachters, des „Amateurs“, den es gerade für mehr als einen Augenblick aufzuhalten, zu fixieren gälte und der, je imponierender die Saalfluchten, nur umso schneller die Flucht ergreift.

Das Museum ist heute das Monument eines Augenblicks, in dem das Werk eher ausgelöscht als ausgestellt wird. Vergeblich versucht es, Arbeiten vor- und aufzustellen, die sich gewöhnlich in Ateliers, Werkstätten und Laboratorien eine zudringliche Wahrnehmung vom Leibe halten. Diese Wahrnehmung kann nicht die Wahrnehmung des Passanten, des von der Spannung, die ihn treibt, zerstreuten, „flüchtigen“ Besuchers sein.

Die gleiche Einschränkung des betrachtenden Blicks und der Besuchszeit wird auch an einem anderem Projekt deutlich: dem geplanten Miniaturnachbau des Staates Israel, wo „die Besucher in aller Sicherheit und ohne groß zu reisen die genaue Kopie des Holocaust-Museums, ein Stück der Klagemauer und die verkleinerte Nachbildung des Sees Genezareth mit einigen Kubikmetern Originalwasser bewundern könnten“. Hinzu käme nach dem Willen der zu diesem Zweck gegründeten Stiftung eine Ausstellung elektronischer Materialien und Bausteine, Produkten der israelischen Industrie. Stattfinden soll diese exterritoriale Selbstdarstellung vor der bretonischen Küste, bei Douarnenez, auf der Isle Tristan, die Frankreich Israel überlassen müßte.

Ob diese Utopie verwirklicht wird oder nicht: Sie ist beispielhaft für die tellurische Kontraktion, die blitzhafte „Überbelichtung“ (surexposition) der weitesten Territorien und ausgedehntesten Objekte aber auch unserer neuesten Fortbewegungsweisen. Fortbewegung auf der Stelle: eine neue Trägheit, die sich zur durchquerten Landschaft verhält wie das Einfrieren des Bildes zum Film, und eine neue, letzte Generation von Fortbewegungsmitteln, Vehikel einer Kommunikation auf Distanz, die mit denen der automobilen Revolution nichts mehr gemein haben. Es ist als liefe die Eroberung des Raums zuletzt auf die Eroberung der Bilder des Raums hinaus. In der Tat scheint es, daß sich nach der Entstehung des automobilen Vehikels, des dynamischen Schienen-, Straßen-, dann Luftfahrzeugs am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhhunderts nun eine letzte Mutation ankündigt: das audiovisuelle Vehikel, das statische Mobil, Substitut unserer physischen Fortbewegung, Verlängerung der trägen Häuslichkeit, Triumph der Seßhaftigkeit, die diesmal endgültig ist.

Auf die Transparenz des Raumes, des Horizonts unserer Reisen und Wege folgte also eine kathodische Transparenz, in der die Erfindungen des Glases vor viertausend Jahren und die des Spiegels vor zweitausend Jahren nur ihre letzte Vervollkommnung fänden. Und vor allem die jenes rätselhaften „Schaukastens“, der die Geschichte der Stadtarchitektur vom Mittelalter bis in unsere Tage geprägt hat - oder genauer: bis zur Verwirklichung des elektronischen Schaukastens, des letzten Horizonts unseres Wandelns. Sein avanciertestes Modell ist der „Flugsimulator“.

Die jüngste Entwicklung der Vergnügungsparks ist übrigens Beweis genug: Der Rummel, das Laboratorium der körperlichen Sensationen, das mit seinen Rutschen, Katapulten und Zentrifugen zum Vorbild fürs Piloten- und Astronautentraining wurde, entwickelt sich nach Aussage der Verantwortlichen selbst immer mehr zum kollektiven Experimentierfeld rein mentaler und visueller Sensationen.

Nachdem der Vergnügungspark im letzten Jahrhhundert einer von bereichernden und differenzierten körperlichen Aktivitäten entfremdeten Arbeiterschaft als Theater der verlorenen physiologischen Sensationen diente, wird er nun zur Bühne aussschließlich optischer Illusionen, zum Ort, an dem der Nicht-Ort der Simulation zum Allgemeinplatz wird. Fiktive Flug- und Bewegungsbahnen verschaffen dem Besucher elektronische Halluzinationen und Räusche. „Verlust des Blicks“ nach dem Verlust der körperlichen Aktivitäten im 19. Jahrhundert. Schon die Panoramen, Dioramen und Kinematographen, die es neben den Jahrmarktsmetiers der Akrobatik und der Schwindelerregung immer gab, hatten dem „Panrama“ und dem hemisphärischen Kino den Weg bereitet. Das hat einen Vorläufer im „ballon cineorama“ Grimoin-Samsons, eine archaische Form unserer heutigen audiovisuellen Vehikel, die in den amerikanischen Hale's Tours konkretere Umrisse annahm. Und tatsächlich wurden einige dieser Tours zwischen 1898 und 1908 ja von Eisenbahngesellschaften finanziert. Zur Erinnerung sei gesagt, daß diese Filme von der Lokomotive oder der Aussichtsplattform des letzten Wagons aus gedreht wurden und daß sie dem Publikum in Sälen vorgeführt wurden, die den Eisenbahnwagen der Zeit genau nachgebildet waren. Einige dieser kurzfilme wurden übrigens von Billy Bitzer gemacht, dem späteren Chefkameramann von D.W. Griffith.

An diesem Punkt sollte man jedoch noch einmal auf den Ursprung der Bewegungsillusion zurückkommen, auf die Brüder Lumiere und die „Einfahrt des Zugs in den Bahnhof von La Ciotat“ von 1895 und vor allem aufs Frühjahr 1896, in dem Eugene Promio die Kamerafahrt erfand. Hören wir ihm zu:

„Zum ersten Mal kam mir die Idee der Panoramaansichten in Italien. Nach meiner Ankunft in Venedig war ich im Boot vom Bahnhof zum Hotel gefahren, und ich sah, wie vorm Bug die Ufer des Canale Grande auseinandertraten. Wenn das unbewegte Kino bewegte Objekte abbilden kann, dachte ich, müßte man den Vorgang auch umkehren und versuchen können, mittels eines bewegten Kinos unbewegte Objekte abzubilden. Ich machte einen Film und schickte ihn nach Lyon, mit der Bitte, mir zu sagen, was Louis Lumiere von diesem Versuch dachte. Die Antwort war zustimmend.“

Um die Wichtigkeit dieses ersten „mobilen Kinos“ - anders gesagt: dieses ersten statischen Vehikels zu begreifen, muß man den Lauf der Geschichte noch weiterverfolgen. Erst 1910 wurden vom Bord eines Farman-Flugzeugs aus die ersten „aeronautischen Aufnahmen“ gemacht, die einzig in Nadars „aerostatischen Platten“ (1858), dem Ursprung der filmischen Schwerelosigkeit, einen Vorläufer haben. Vier Jahre später wird die Kamera bei den Dreharbeiten zu Giovanni Pastrones „Cabiria“ zum ersten Mal auf einen Wagen montiert, der auf Schienen läuft, eine Technik, die zur Tradition wird und vom heutigen Kino nicht mehr wegzudenken ist. Erinnern wir ferner an die Agitations-Züge, die Benutzung des Schienennetzes durch Dziga Vertov, der 1918 in das erste revolutionäre Filmkomitee, die Mo-Kino, Abteilung Filmchronik eingetreten war und der 1923 eine „Sektion Kino -Automobile“ ins Leben ruft, die in eiligen Fällen wichtige Ereignisse abdecken sollen, Vorläufer der „Videomobile“ beim Fernsehen. Mit dieser Kopplung an die Vehikel, die das Audiovisuelle mit den Automobilen verbindet, verändert sich zuletzt unsere Wahrnehmung der Welt: Optik und Kinematik verschmelzen. Einsteins Theorie des Standpunkts, später „Spezielle Relativitätstheorie“ genannt, tritt 1905 auf den Plan. Ihr folgt, einige zehn Jahre danach, die „Allgemeine Relativitätstheorie“. Beide greifen um der unmittelbaren Verständlichkeit willen in großem Maße auf die Metaphern des Zugs, der Straßenbahn und des Aufzugs zurück, Vehikel einer physikalischen Theorie, die ihnen alles, oder fast alles verdankt. Denn zur selben Zeit bringt die Revolution der Transportmittel eine charakteristische Veränderung der Ankunft mit sich - fortschreitende Negation des Zeitraums, zunehmende Verkürzung der Abfahrt und Ankunft trennenden Reisezeit. Die räumliche Distanz verliert gegenüber der zeitlichen, die weitesten Reisen werden zu Zwischenakten...

Aber - wir haben es schon gesagt - wenn das 19. und ein Gutteil des 20. Jahrhunderts den großen Aufschwung des automobilen Vehikels in all seinen Formen erlebt hat, so heißt das längst nicht, daß die Entwicklung des Vehikels an ihr Ende gelangt wäre. Sie führt erst noch - wie einst, aber schneller - vom zügellosen Nomadentum zur Trägheit, zur endgültigen Seßhaftigkeit.

Tatsächlich beginnt in den dreißiger Jahren mit Radio, Fernsehen, Radar, Sonar und der entstehenden elektronischen Optik der Triumph des audiovisuellen Vehikels. Zuerst im Krieg, dann, trotz der massiven Nachkriegsentwicklung zum Privatauto, im Frieden. In diesem „nuklearen Frieden“ vollzieht sich die Revolution der Information, Informatik und Telematik sind unerläßlich für die verschiedenen - militärischen und ökonomischen Abschreckungspolitiken. Seit den sechziger Jahren spielt sich das Entscheidende also nicht mehr auf den Verbindungswegen irgendeines geographischen Territoriums ab (daher der Verfall und die tarifliche Unordnung der öffentlichen Verkehrsmittel), sondern im Äther, im elektronischen Äther der Telekommunikation.

Von nun an kommt alles, ohne daß man gehen muß. Auf die spezielle Ankunft dynamischer, mobiler, dann automobiler Vehikel folgt jäh die allgemeine der Bilder und Töne in den statischen Vehikeln des Audiovisuellen. Die polare Trägheit beginnt. Die nahtlose elektronische Schnittstelle ersetzt die längeren Zeiträume der Fortbewegung, das Interface ersetzt das Intervall. Nach der Entstehung der Zeitentfernungen auf Kosten der räumlichen im 19. Jahrhundert entstehen nun die Geschwindigkeitsentfernungen der elektronischen Bilderwelt: Freeze Frame folgt auf Dauerparken.

Nach Ernst Mach gäbe es eine geheimnisvolle Allgegenwart des Universums an jedem Punkt und in jedem Augenblick der Welt. In der Tat: Wenn jedes mobile (oder automobile) Vehikel auch das Vehikel einer bestimmten Vision und Wahrnehmung der Welt ist, die nur durch seine Bewegungsgeschwindigkeit im umgebenden Raum - Land, Wasser, Luft - künstlich erzeugt wird, so müssen umgekehrt alle Visionen und (optischen oder klanglichen) Bilder der wahrgenommenen Welt ihrerseits auf ein „Vehikel“ zurückverweisen, von dessen Übertragungsgeschwindigkeit man nicht absehen kann - und das seit der teleskopischen Augenblicklichkeit, in der sich das Bild in der passiven Optik von Galileis Fernrohr aufrichtete und bis zu unseren modernen „Telekommunikationsmitteln“, der aktiven Optik der Video-Informatik.

Man kann also das dynamische vom statischen Vehikel, Automobilität von Audiovisualität nicht mehr klar unterscheiden - der jüngste Primat der Ankunft über die Abfahrt, über alle Ortsveränderungen, Wege, Strecken, Flugbahnen ist Teil einer mysteriösen Verschwörung: Trägheit des Moments, jedes Orts und jedes Augenblicks der heutigen Welt, die sich zuletzt dem Prinzip der Nicht-Trennbarkeit fügt und das der Unbestimmtheit der Quanten vollendet.

Die Versuche, die Technologien der beiden Vehikel zu verbinden - die systematische Benutzung von Video -Landschaften in den Aufzügen japanischer Wolkenkratzer zum Beispiel, oder die Vorführung abendfüllender Spielfilme auf kommerziellen Langstreckenflügen - werden nicht von Dauer sein und unweigerlich zur Eliminierung des an Propagationsgeschwindigkeit unterlegenen Vektors führen besser als alle Prophezeiungen zeigen das die derzeitige Flucht nach vorn des Hochgeschwindigkeitszugs (TGV) und des Überschallflugzeugs und ihre gleichzeitige Vernachlässigung: Bedroht sind die automobilen Vehikel, zu Wasser, zu Land und in der Luft.

Die Ära der intensiven Zeit ist nicht mehr die des physischen Transportmittels, sondern - im Gegensatz zur vergangenen Ära der extensiven Zeit - ausschließlich die der Telekommunikationsmittel, anders gesagt: Alles geschieht auf der Stelle und in häuslicher Trägheit. Die jüngste Entwicklung des Autos und der Formel 1-Rennen beweisen das zur Genüge: Weil man mit den audiovisuellen Attraktionen letztlich nicht mehr konkurrieren kann, modelt man ständig am Rennauto herum, mal werden die Wettkampfregeln geändert, dann die Fahrzeuggewichte oder Benzinreserven, schließlich drosselt man gar - der Gipfel! - die Motorleistung. Das symptomatische Vehikel dieser sportlichen Rückentwicklung ist der dragster (und der hot road), dessen Devise sein könnte: „Wie komme ich nirgendwohin, oder jedenfalls immer weniger weit (400, 200 Meter), aber so schnell wie möglich?“

Die extreme Tendenz dieses intensiven Wettkampfs wäre die Koinzidenz von Ziel- und Startlinie, dies Kunststück wäre dann so attraktiv wie die Direktschaltung im Fernsehen. Die Entwicklung des Privatautos geht hier in jedem Punkt parallel. Inzwischen gibt es eine Art Selbstgenügsamkeit des Automobils, die es immer mehr zu einem ausgelagerten Wohnungszimmer macht. Daher dieses Hin- und Her, diese Verdoppelung der Akzessoirs, der Einrichtungsgegenstände, der Hifi-Anlage, des Telephons, Telex- und Videogeräts. Unmerklich gerät das Fernverkehrsmittel zum Verkehrsmittel des Hier und Jetzt, Vehikel der Gemütlichkeits-, Musik- und Geschwindigkeitstransporte...

Die automobilen Erd-, Wasser-, Luftfahrzeuge sind inzwischen nicht mehr sosehr Fahrgestelle, die zur Bewegung angetrieben werden, als Gestelle im Sinne der Brillenmacher und Optiker, nicht mehr sosehr Vektoren der physischen Ortsveränderung als der Wahrnehmung, Gestelle einer immer schnelleren Optik des umgebenden Raums. Die Aussicht auf mehr oder weniger lange Reisen weicht nach und nach der einfachen Voraussicht einer mehr oder weniger schnellen Ankunft am Bestimmungsort und der allgemeinen Ankunft der Bilder und der Information, die die Ortsveränderungen künftig ganz ersetzen wird. Daher knüpfen sich schon jetzt geheime Beziehungen zwischen der architektonischen Statik der Häuser und der medialen Trägheit des audiovisuellen Vehikels. Schon entsteht das intelligente Haus, mehr noch die intelligente und interaktive Stadt, der Teleport als Nachfolger des Hafens, des Bahnhofs, des internationalen Airports.

Auf die Frage eines indiskreten Journalisten nach ihrer Adresse antwortete eine berühmte Schauspielerin: „Ich wohne überall.“ Morgen - das ist versprochen, das zeigen Logik und Ästhetik des Verschwindens des Architektonischen - wohnen wir alle überall, wie die Tiere im „Video-Zoo“, die nurmehr als hier oder dort, gestern oder vorgestern aufgenommene Bilder auf dem Monitor existieren - die Orte sind unwichtig, maßlose Trabantenstädte filmischer Entwirklichung, in der sich die audiovisuelle Geschwindigkeit zur Innenarchitektur unserer Wohnungen so verhalten wird wie die automobile Geschwindigkeit zur Stadtarchitektur und Landschaftsplanung. „Bodensimulatoren“ werden also an die Stelle der Flugsimulatoren treten. Eingeschlossen in unsere kathodischen Vitrinen werden wir zu den Tele-Akteuren eines lebenden Kinos, das schon einen Vorboten hat: die „Ton - und Lichtschauen“, die seit Malraux und bis Leotard und Jack Lang angeblich veranstaltet werden, um unsere historischen Bauten zu retten.

Ein Film zu werden scheint also unser gemeinsames Schicksal. Besonders seit der Verantwortliche der Cinescenie in Puy-du-Fou, Vendee, Staatssekretär für Kultur und Kommunikation geworden ist und sich vorgenommen hat, hier und dort „szenische Aufführungen an historischen Stätten“ abzuhalten. So sollen unsere Baudenkmäler und Museen wieder attraktiver werden und gegen importierte Parks wie „Disneyland“ bei Paris oder „Wonderworld“ bei London konkurrieren.

Nach der Theater-Szenographie der Agora, des Forums, der Plätze, die traditionell zur Geschichte der Städte gehörte, nun also die Kino-Szenographie - Kommunen, Regionen, historische Stätten werden zu Sequenzen, und die aktive Bevölkerung verwandelt sich eine Zeitlang in Statisten einer Geschichte, die wiederbelebt werden soll - der Krieg der Vendee mit Philippe de Villiers, die Jahrtausendverdienste der Stadt Lyon mit Jean-Michel Jarre. Auch der Vorgänger des jetzigen Kultusministers hat der Erscheinung gehuldigt. Er hat eine raffiniertere audiovisuelle Technik eingeführt, als er im Rahmen des Programms „Salamandre“ eine interaktive Vidodisk mit einer Führung durch die Schlösser der Loire finanzierte... „Ton und Licht“ daheim, die Touristen der Vergangenheit werden zu Video-Besuchern, „Tele -Liebhabern der alten Bauten“, die in ihrer Plattensammlung neben Mozart und Verdi die Schlösser Cheverny und Chambord einordnen.

„Man träumt nicht mehr, man wird geträumt, Ruhe“, konstatierte Henri Michaux in seinem Gedicht „La Ralentie“. Die Umkehrung beginnt. Das Wasser läuft in die Flasche zurück. Wir gehen rückwärts, aber immer schneller. Die Rückentwicklung zur Trägheit beschleunigt sich. Selbst unsere Begierde erstarrt in immer größerer medialer Distanz: Nach den Prostituierten-Schaufenstern in Amsterdam, dem Striptease der fünfziger Jahre und der Peepshow der siebziger nun die Video-Pornographie. In der Rue Saint-Denis richtet sich die Liste der Todsünden nach der der neuen Bildtechnologien: Betacam, VHS, Video 2000 usw., bis die erotischen Roboter und Sehmaschinen erfunden sind...

Im militärischen Bereich verhält es sich ähnlich: Nach dem Heimtrainer der Piloten des Ersten Weltkriegs, den „rotierenden Sesseln“ der Piloten des Zweiten Weltkriegs und der NASA-Zentrifuge, die unter realistischen Bedingungen die Eignung der Astronauten für die Schwerelosigkeit testete, kommen nun, seit zehn Jahren, die immer leistungsfähigeren „Simulatoren“ für die Überschallpiloten. Eine Kuppel von acht Metern Durchmesser zur Projektion von Bildern, Geode für einen einzigen Zuschauer. Das neueste dieser sphärischen Kinos wird bald Bilder auf ein Gesichtsfeld von 300‘ projizieren, möglich wird das durch ein optisches System im Helm des Piloten, das seinen Augenbewegungen folgt. Um den Realismus der Szene noch zu erhöhen, muß der hier trainierte Pilot einen aufblasbaren Overall anziehen, der die durch Beschleunigung und Bremsung verursachten Gravitationsschwankungen simuliert.

Aber die wesentliche Umwälzung steht noch bevor. Schon erprobt man ein vom Okulometer abgeleitetes Simulationssystem, das die sphärische Leinwand endgültig verabschieden wird: Die Bilder vom Luftkampf werden nun mittels eines Helms, der mit einer Faseroptik ausgestattet ist, direkt in den Augapfel des Piloten projiziert. Dieses künftige Trainingsmaterial, dessen halluzinative Wirkung der von Drogen gleichkommt, zeigt den Trend zum Verschwinden aller Szenen und Bildflächen und zum einsamen Triumph des „Sitzes“, eines Sitzes freilich, der zur Falle wird fürs Individuum: Seine Wahrnehmung wäre von vornherein durch die Rechenkapazität des Inferenzmotors im Computer programmiert. Dieser nächste Typ des statischen Vehikels erfordert, denke ich, eine Überprüfung der Begriffe der Energie und des Motors selbst. Die Physiker unterscheiden bisher zwei Aspekte des Energetischen, die potentielle Energie und die kinetische, die die Bewegung hervorruft. Vielleicht ist neunzig Jahre nach Erfindung der Kamerafahrt ein dritter Begriff hinzuzufügen: der der kinematischen Energie, die aus der Wirkung der Bewegung und ihrer Geschwindigkeit auf die Wahrnehmung des Auges, sowie in der Optik und Opto -Elektronik erwächst.

Aber das Wichtigste bliebe ungesagt, wenn wir nicht auf den Primat der Zeit über den Raum zurückkämen, der sich durch den Primat der (unmittelbaren) Ankunft über die Abreise ergibt. Die zeitliche Tiefe kann nur deshalb über die räumliche obsiegen, weil sich unsere alten Ordnungen der Zeitlichkeit beträchtlich gewandelt haben. Hier wie dort, auch in unserem banalen Alltagsleben gehen wir über von der extensiven Zeit der Geschichte in die intensive einer geschichtslosen Augenblicklichkeit, die durch die neuen Technologien ermöglicht wird. Die Technologie des Automobils, die Audiovisionstechnik und die Informatik gehen alle in dieselbe Richtung: Kontraktion der Dauer. Tellurische Kontraktion, die nicht nur die Ausdehnung der Territorien in Frage stellt, sondern auch die Architektur der Häuser und Möbel.

Wenn Zeit Geschichte ist, ist Geschwindigkeit nur die Halluzination davon, perspektivische Halluzination, die alle Weite und Tiefe und alle Chronologie vernichtet. Als raum -zeitliche Halluzination geht sie allem Anschein nach hervor aus der intensiven Ausbeutung einer kinematischen Energie, deren Motor das audiovisuelle Vehikel wäre, so wie es das mobile, dann automobile Vehikel für die kinetische Energie war. Die synthetischen Bilder nähmen zuletzt die Stelle der gleichnamigen, seit dem letzten Jahrhundert genutzten Energien ein.

Seien wir also mißtrauisch. Die dritte Dimension ist nicht mehr das Maß der Tiefe, die Wirklichkeit ist nicht mehr Relief. Sie verschwindet in der Flachheit der Fernsehbilder. Daher diese Neubesetzung der Häuser, Leichenstarre in der interaktiven Wohnung, die zur wohnraumverdrängenden Kanzel wird. Das wichtigste Möbel wäre der Sitz, der ergonomische Sessel für den motorisch Behinderten, oder auch - wer weiß? - das Bett, ein Kanape für den gebrechlichen Voyeur, eine Couch, um geträumt zu werden ohne zu träumen, eine Bank, um in Umlauf gesetzt zu werden ohne herumzulaufen...

Übersetzung: Thierry Chervel

Dieser Text ist ein Vorabdruck eines Kapitels aus Virilios Band „Essai sur l'inertie“, der im nächsten Jahr in den Editions Christian Bourgois erscheinen wird.

Wir danken Paul Virilio für die Abdruckgenehmigung