Das Wünschen hilft nicht mehr

■ Francoise Bouillots Romandebüt "ABC-City - Wüste so weit wie Sehnsucht"

Fran?oise Bouillots Romandebüt „ABC-City - Wüste so weit wie Sehnsucht“

Jeder kennt das: Man wünscht sich was, bekommt es, will es nicht mehr, wünscht sich deshalb etwas anderes, bekommt das nicht, wünscht sich deshalb etwas anderes, bekommt es, will es nicht mehr ... und so weiter, bis das Leben zu Ende ist und Kleiderschrank, Kühlschrank, Garage oder Nippesvitrine wohl gefüllt sind. Langweilig wäre das Leben, verödet die Wunscherfüllungsindustrie, wäre der erste Mann auch gleich der einzig richtige und der erste Wintermantel das passende Modell fürs ganze Leben.

Doch zum Glück gibt es das Unglück, ist das, was man hat, nie das, was man wollte, kann man bei großem Kummer große Autos und schon bei wenigen Sorgen viele Kleider kaufen. Ersatzbefriedigung, Substitution oder Kompensation sind häßliche Worte für diese menschlichste aller menschlichen Eigenschaften: die Sehnsucht.

Von ihr befallen ist das junge Ehepaar Fran?ois und Roberte im ersten Roman der Französin Fran?oise Bouillot. Fran?ois liebt die Männer, Roberte hingegen einen bestimmten Mann, den sie jedoch ständig mit etwas anderem verwechselt: einem Land, einer Landschaft, einem Wüstenstaat.

Ein klassischer Fall von Wunschverschiebung mit bedauerlichen Folgen. Erstens treibt er die Heldin in den Freitod: Ihr letzter Wunsch, die Sehnsucht nach der Wüste, endet mit einem Fenstersturz im Bundesstaat Nevada. Zweitens ermöglicht er dem Rowohlt-Verlag ein im Französischen schlicht „Roman von Roberte“ benanntes Werk mit einem reißerischen Untertitel zu verunstalten: „Wüste so weit wie Sehnsucht“.

Die Geschichte, die so tragisch versandet, beginnt zunächst durchaus harmlos in einer Stadt: in New York. Roberte, eine junge Französin, wohnt allein in Alphabet City, einer heruntergekommenen Gegend Manhattans, und verliebt sich in den erstbesten Mann, der ihr begegnet: in ihren Nachbarn. Sie sieht ihn in der Tür stehen und sieht im selben Moment auch schon durch ihn hindurch das nächstgrößere Ziel ihrer Sehnsucht: Amerika.

„Indem ich hinter diesem Mann den flachen, dargebotenen Kontinent erkannte“, gesteht sie später, „habe ich beide miteinander verwechselt. Mit meinem ganzen neuen Eroberungsgeist bin ich losgestürzt, ... um ihn zu ergreifen, zu besitzen, ihn leidenschaftlich in meine Besitzarme zu schließen. Und weil die Arme nicht mehr als gehorsame Diener des Begehrens sind, wollen sie umklammern ... Sie wollen ergreifen, aber man kann weder die Stadt New York noch Kontinente oder gar Jahrhunderte einschließen, also habe ich gutgläubig ... den Nachbarn an mich gepreßt.“

Das Sehnsuchts- und Wunschkarussell beginnt sich zu drehen: Der Nachbar verläßt Roberte wieder und zieht nach Nevada. Roberte heiratet Fran?ois, trauert aber noch immer um den Nachbarn und geht nur selten aus der Wohnung, um dessen mögliche Rückkehr nicht zu verpassen. Doch langsam wird die Sehnsucht nach dem Nachbarn zur Sehnsucht nach Geräuschen, die auf ihn schließen lassen könnten, wird die Sehnsucht nach Geräuschen schließlich zur Sehnsucht nach einer Wüstenlandschaft und diese zu böser Letzt zur Sehnsucht nach dem Tod. Ende der Wunschverschiebung und Anfang des Romans, den der inzwischen gealterte Francois mit schmerzensreichen Worten zu Papier bringt.

Er hat bekommen, was er wollte: Roberte, die Frau seines Lebens, und die damit verbundenen Liebesschmerzen, ein in seinen Augen überaus geeignetes Vademecum für das hartgewordene Großstadtherz.

Aufgewachsen im Milieu der Strichjungen und Transvestiten hatte die Welt für ihn „ihre erste grundlegende Ordnung“ früh verloren. Einzig in der Ehe mit der sehnsuchtskranken Roberte schienen ihm die Dinge einen geordneten Verlauf zu nehmen. Doch mit ihrem Tod erfährt sein Leben eine überraschende Wende: Er entdeckt seine wahren Gefühle und mit ihnen die Schönheit seines Vaterlandes.

„Im frischen, reinen Glanz“ erscheint Amerika dem vom Schmerz geläuterten Fran?ois: Die vordem verkehrte Welt, in der Männer zu Frauen wurden und Frauen statt Männer Landschaften liebten, verwandelt sich nun in ein Märchenland, in dem „Ordnung herrscht“ und in dem „das Licht von der Finsternis wieder geschieden ist“. Ganz wie am ersten Tag. Ordentlich, jung und schön, so wie Fran?ois sich sein Land schon immer gewünscht hat.

Eine bedrückende Vorstellung, gemildert einzig durch den Verdacht, daß die wahren Gefühle dieser gefühlsstarken Protagonisten so wahr nicht sind. Sie sind nämlich viel zu groß: zu groß für diese vereinsamten Stadtneurotiker aus New York City, die ausgestattet mit dem Schmerzensarsenal eines ganzen Opernensembles ständig den Eindruck von Leuten in viel zu weiten Mänteln und zu großen Schuhen hinterlassen, in Wahrheit aber so weit entfernt voneinander leben, daß sie sich nicht einmal ordentlich auf die Füße treten können. Was ihnen bleibt, ist das Wünschen, das jedoch, seitdem es nichts mehr hilft, einzig der Wunschverirrung und -verschiebung Tür und Tor geöffnet hat. Womit man wieder am Anfang wäre.

Schade nur, daß das, was als Verwechslungskomödie der Verirrungen des Herzens vielleicht den Charme der Wahrhaftigkeit gehabt hätte, in dem schwerfälligen von Qual, Schmerz und Leidenschaft unverdaulich aufgedunsenen Stil dieses Romans lediglich zu einem romantischen Asphaltthriller über das harte Großstadtleben geworden ist.

Es ist eben eine Kunst, die wahrhaft großen Gefühle wahrhaft darzustellen. Allzuleicht unterliegt man einer Verwechslung...

Iris Radisch

Fran?oise Bouillot: ABC City - Wüste so weit wie Sehnsucht. Roman. Aus dem Französischen von Sigrid Brinkmann, Rowohlt Verlag, 1989, 184 S., 9.80 DM