Regieren - eine späte Erfindung

■ In seiner Vorlesung von 1978 skizzierte Michel Foucault die Entstehung der spezifisch modernen Form von Herrschaft

Michel Foucault

Worin besteht Regierungskunst? Ich möchte versuchen, die Dinge noch in ihrem Rohzustand zu betrachten und nehme mir einen der ersten Texte der großen antimachiavellistischen Literatur vor, Guillaume de La Perrieres Le Miroir politique, contenant diverses manieres de gouverner von 1555.

Zwar ist dieser Text im Vergleich zu Machiavelli sehr enttäuschend, aber es zeichnen sich darin einige Punkte ab, die ich für wichtig halte. Erstens: Was versteht La Perriere unter „gouverner“ - regieren - und „gouverneur“ Regierender? Wie lautet seine Definition dafür? Auf Seite 46 seines Textes sagt er: „Als Regierender kann jeder Monarch, Kaiser, König, Fürst, Lehnsherr, Magistrat, Prälat, Richter und ihresgleichen bezeichnet werden.„1 Wie bei La Perriere wird auch in anderen Traktaten der Regierungskunst regelmäßig darauf hingewiesen, daß man auch von der Regierung eines Hauses oder der Regierung der Kinder, der Seelen, Provinzen, Klöster, religiösen Orden, Familien spricht.

Diese Bemerkungen, die nur von Fragen des Vokabulars zu handeln scheinen - und sie sind in der Tat nichts anderes haben wichtige politische Implikationen. Denn der Fürst, wie er bei Machiavelli oder in der Machiavelli-Rezeption erscheint, ist per definitionem - dies war ein grundlegender Leitsatz der Machiavelli-Lektüre - einzig in seinem Fürstentum; er gehört nicht dazu, er, transzendiert es. Man erkennt nun: Regentschaft und Regierung stellen einerseits ein vielfältiges Bündel von Praktiken dar, denn vielerlei Leute regieren: der Vater die Familie, der Abt das Kloster, der Erzieher oder Lehrmeister das Kind oder den Schüler...; es gibt also viele Regentschaften und Regierungen, die des Fürsten über seinen Staat ist nur eine ihrer Erscheinungsformen; und andererseits sind all diese Regierungen Regierungen innerhalb von Staat und Gesellschaft. Der Familienvater regiert seine Familie, der Abt sein Kloster usw innerhalb des Staatswesens. Es gibt also eine Pluralität der Regierungsformen, die alle innerhalb des Staates ausgeübt werden, Vielfalt und Immanenz der Regierungstätigkeiten, die sich der transzendenten Einzigartigkeit des Fürsten bei Machiavelli radikal entgegensetzen.

Gewiß, unter all diesen Formen von Regierung, die sich im Schoße der Gesellschaft, des Staats überkreuzen und verknüpfen, gibt es eine ganz besondere: diejenige, die auf den Staat als Ganzes angewandt wird und die hier herausgearbeitet werden soll. So versucht Fran?ois de La Mothe Le Vayer in einer Reihe von Texten, die aus einer späteren Epoche stammen als der erste hier zitierte - genau gesagt aus dem folgenden Jahrhundert - und die der Erziehung des Dauphins dienten, eine Typologie der verschiedenen Formen von Regierung zu erstellen. Er sagt, daß es im wesentlichen drei Arten von Regierung gibt, die alle einem bestimmten Bereich der Wissenschaft oder des Denkens angehören: die Regierung der eigenen Person („gouvernement de soi-meme“), die in den Bereich der Moral gehört, zweitens die Kunst, eine Familie zu regieren, die in den Bereich der Wirtschaft gehört; schließlich die Kunst der Staatsregierung, die in den Bereich der Politik gehört.2 Gegenüber Moral und Wirtschaft ist Politik etwas Einzigartiges. La Mothe Le Vayer weist mit Nachdruck darauf hin, daß Politik weder in Wirtschaft noch in Moral ganz aufgeht.

Ich glaube, es ist wichtig, festzuhalten, daß sich die verschiedenen Regierungskünste trotz dieser Typologie immer auf eine Kontinuität von der einen zur anderen und von der zweiten zur dritten beziehen, ja sie postulieren. Während also die Fürstendoktrin oder auch die juristische Lehre vom Herrscher stets versuchen, die Diskontinuität zwischen der Macht des Fürsten und allen anderen Machtformen scharf zu betonen, sollte man die - auf- und absteigende - Kontinuität nicht übersehen, sobald es darum geht, diese Diskontinuität zu erklären, geltend zu machen, zu fundieren.

Aufsteigende Kontinuität, sofern derjenige, der den Staat regieren will, zunächst sich selbst und dann, auf einer anderen Ebene, seine Familie, seinen Besitz regieren können muß; so wird er auch den Staat regieren lernen. Diese Art aufsteigender Linien charakterisiert die gesamten Erziehungsschriften für Thronfolger, die in dieser Zeit so wichtig sind und für die La Mothe Le Vayer ein Beispiel ist

-er hat für den Dauphin zunächst ein Buch über die Moral, dann eines über die Wirtschaft und zuletzt einen politischen Traktat geschrieben.3 Nicht zuletzt diese Prinzenerziehung soll die aufsteigende Kontinuität der verschiedenen Regierungsformen garantieren.

Umgekehrt gibt es eine absteigende Kontinuität: Ein Staat ist gut regiert, wenn auch die Familienväter ihre Familie und ihren Besitz zu regieren wissen und wenn auch die einzelnen Individuen sich aufführen, wie es gefordert ist. Diese absteigende Linie, die bewirkt, daß die gute Staatsregierung bis ins Verhalten der Individuen und die Organisation der Familien nachklingt, entspricht genau der damals aufkommenden Definition der „police“.

Die Pädagogik der Thronfolger gewährleistet die aufsteigende Kontinuität der Regierungsformen und die „police“ die absteigende. Sie sehen jedenfalls, daß das wesentliche Stück in dieser Kontinuität, ihr zentrales Element, sowohl in der Pädagogik der Thronfolger, als auch in der „police“, jene Regierung der Familien ist, die auch „Wirtschaft“ genannt wird.

Die Kunst der Regierung, wie sie in dieser ganzen Literatur erscheint, muß im wesentlichen auf folgende Frage antworten: Wie läßt sich die Wirtschaft - das heißt die ordentliche Führung der Individuen, die auch ihre Reichtümer und Güter zu verwalten wissen, wie es innerhalb einer Familie möglich ist und wie sie der Familienvater auch gegenüber seiner Frau, seinen Kindern, seinen Bediensteten usw. aufrechterhalten kann, der gute Familienvater, der weiß, wie er das Vermögen seiner Familie zu mehren hat, wie er die richtigen Ehen für seine Kinder stiftet - wie läßt sich diese väterliche Sorge, diese peinliche Umsicht, dieser Typ der Beziehung des Familienvaters zu seiner Familie einordnen in das Gefüge der Staatsführung?

Die Einordnung der Wirtschaft in die Ausübung von Politik, das ist, glaube ich, das wesentliche Ziel von Regierung. Und wenn das fürs 16.Jahrhundert gilt, so gilt es auch noch fürs 18.Jahrhundert. In Jean-Jacques Rousseaus Artikel „Economie politique“ können Sie sehr gut sehen, wie auch Rousseau noch das Problem in denselben Begriffen stellt. Das Wort „Wirtschaft“, so stellt er schematisierend fest, bezeichnet ursprünglich die „weise Regierung des Haushalts für das Gemeinwohl der ganzen Familie„4. Das Problem ist, sagt Rousseau: Wie kann diese weise Regierung der Familie, mutatis mutandis und mit all den einschlägigen Diskontinuitäten, eingeordnet werden ins Gefüge der allgemeinen Staatsführung? Einen Staat regieren heißt also, eine Wirtschaft ins Werk setzen, und zwar auf der Ebene des Staats insgesamt, heißt, gegenüber der Bevölkerung, den Reichtümern, dem Betragen aller und jedes Einzelnen eine Form der Überwachung, der Kontrolle zu erlangen, die nicht weniger sorgsam ist als die des Familienvaters über Haushalt und Güter.

Ein im 18.Jahrhundert übrigens häufiger Ausdruck ist dafür sehr charakteristisch. Quesnay sagt, eine gute Regierung sei eine „wirtschaftliche Regierung“ („gouvernement economique“). Dieser Begriff taucht bei Quesnay zum ersten Mal auf. Er ist im Grunde tautologisch, da Regierungskunst gerade in der Kunst besteht, die Macht in der Form und nach dem Vorbild der Wirtschaft auszuüben. Wenn Quesnay dennoch von „wirtschaftlicher Regierung“ spricht, so liegt das daran, daß das Wort „Wirtschaft“ aus Gründen, die ich noch zu erhellen suchen werde, in dieser Zeit schon anfängt, seine moderne Bedeutung anzunehmen. Und ab diesem Moment wird Regierung - das heißt, die Kunst der Machtausübung in Form der Wirtschaft - im wesentlichen die Wirtschaft im heutigen Sinne des Worts zum Gegenstand haben. Der Begriff „Wirtschaft“ bezeichnete im 16. Jahrhundert eine Form von Regierung; im 18. Jahrhundert wird er eine Ebene der Wirklichkeit, ein Handlungsfeld bezeichnen. Bis dahin durchläuft er eine Reihe komplizierter Prozesse, die, wie ich glaube, absolut entscheidend für unsere Geschichte sind. Soviel also zum Regieren und Regiertwerden.

Zweitens findet sich - immer noch im selben Buch von Guillaume de La Perriere - folgender Satz: „Regierung ist die rechte Verfügung über die Dinge, für die man die Verantwortung übernimmt, um sie einem angemessenen Zweck zuzuführen„5. An diesen zweiten Satz möchte ich eine neue Reihe von Bemerkungen anknüpfen, die nun nicht mehr die Definition selbst von Regierendem und Regierung betreffen.

„Regierung ist die rechte Verfügung über die Dinge.“ Ich möchte ein wenig bei diesem Wort „Dinge“ einhalten. Denn, wenn man in Machivellis Fürsten nachsieht, worauf sich die Macht richtet, wird man als Objekt, gewissermaßen als Zielscheibe der Macht, zweierlei finden: einerseits ein Territorium, andererseits die Leute, die es bewohnen. Übrigens greift Machiavelli in diesem Punkt nur für seinen eigenen Gebrauch und die besonderen Zwecke seiner Analyse ein altes juristisches Prinzip auf, durch das im öffentlichen Recht vom Mittelalter bis ins 16.Jahrhundert Herrschaft („souverainete“) definiert wurde: Herrschaft wird nicht über Dinge ausgeübt, sondern zunächst über ein Territorium und in der Folge über die Untertanen, die es bewohnen. So gesehen ist das Territorium Grundstein sowohl des Fürstentums bei Machiavelli als auch der juristischen Herrschaft des Herrschers, wie sie bei den Rechtsphilosophen oder -theoretikern definiert wird. Gewiß, das Territorium kann fruchtbar oder unfruchtbar, dicht oder dünn bevölkert sein, seine Bewohner können faul oder aktiv sein, aber all diese Elemente sind nur Variablen in bezug auf das Territorium, das das Fundament selbst des Fürstentums oder der Herrschaft darstellt.

Nun sieht man bei La Perriere, daß die Definition von Regierung sich in keiner Weise auf das Territorium bezieht. Was meint La Perriere also, wenn er sagt, daß die Regierung über „Dinge“ regiert? Es geht, glaube ich, nicht darum, Dinge und Menschen gegeneinander anzuführen, es geht darum zu zeigen, daß Regierung sich nicht auf das Territorium bezieht, sondern auf eine Art Gefüge aus Menschen und Dingen. Diese Dinge, für die die Regierung die Verantwortung übernimmt, sind die Menschen - die Menschen in ihrem Zusammenhang, ihren Bezügen, ihren Verflechtungen mit Dingen wie den Bodenschätzen, den Rohstoffen, dem Lebensunterhalt und dem Territorium natürlich in seinen Grenzen, mit seinen Eigenschaften, seiner Trockenheit, seiner Fruchtbarkeit usw....; die Menschen in ihrem Verhältnis zu jenen anderen Dingen wie den Sitten, den Gewohnheiten, den Handlungs- und Denkmustern usw....; die Menschen in ihrem Verhältnis zu jenen nochmals anderen Dingen wie Unfällen, Mißgeschicken wie Hunger, Epidemien, Tod usw....

Daß Regierung sich auf Dinge richtet, die in dieser Weise als Verflechtungen von Menschen und Dingen zu verstehen sind, findet man leicht bestätigt in einer Metapher, die in den Traktaten über Regierungskunst immer wieder auftaucht: die Metapher vom Schiff. Ein Schiff regieren, was heißt das? Es heißt natürlich, die Verantwortung für die Matrosen übernehmen, aber auch die Verantwortung für das Schiff selbst und die Ladung; ein Schiff regieren, das heißt auch, die Winde, die Klippen, die Stürme und andere Wetterunbilden in Erwägung ziehen; und diese Herstellung einer Beziehung zwischen den Matrosen, deren Leben es zu erhalten gilt, zum Schiff, das sicher in den Hafen gelenkt werden muß, und zu den Winden, Klippen, Stürmen usw. zeichnet die Regierung eines Schiffs aus. Dasselbe gilt fürs Haus: Haushaltsführung hat nicht in erster Linie die Erhaltung des Familienbesitzes zum Ziel, sondern die Individuen selbst, aus denen sich die Familie zusammensetzt, ihren Reichtum, ihren Wohlstand; eine Familie regieren, heißt, alle denkbaren Ereignisse in Betracht ziehen, wie Tode, Geburten usw., heißt, die Handlungsmöglichkeiten ins Auge fassen, zum Beispiel die Möglichkeit der ehelichen Verbindung mit anderen Familien. Haushaltsführung in diesem allgemeinen Sinne zeichnet Regierung aus. Im Vergleich dazu sind das Problem des Grundbesitzes für die Familie, die Aneignung von Herrschaft über ein Territorium für den Fürsten letztlich nur zweitrangige Elemente. Das Wesentliche ist also dieser Komplex von Menschen und Dingen; Territorien und Besitz sind darin gewissermaßen nur Variablen.

Auch dieses Thema, das bei La Perriere in der seltsamen Definition von „Regierung“ als Regierung von Dingen in Erscheinung tritt, findet man noch im 17. und 18.Jahrhundert wieder. Im Anti-Machiavel6 FriedrichsII. findet man darüber ein paar bedeutsame Seiten, zum Beispiel, wenn er sagt: Vergleichen Sie nur Holland und Rußland; Rußland mag die am weitesten ausgedehnten Grenzen Europas haben, woraus besteht Rußland? Aus Sümpfen, Wäldern, Wüsten, es ist kaum bevölkert, ein paar Horden armer, untätiger Menschen, ohne Gewerbe und untätig; nun werfen wir im Gegensatz dazu einen Blick auf Holland: Auch Holland besteht aus Sümpfen, Holland ist ganz klein, aber es hat eine Bevölkerung, Reichtum, Handel usw...., woraus folgt, daß Holland ein wichtiges Land ist in Europa, während Rußland kaum anfängt, eine Rolle zu spielen. Regieren heißt also, Dinge regieren.

Ich komme noch einmal auf die Stelle zurück, die ich vorhin zitiert habe. La Perrieere sagte: „Regierung ist die rechte Verfügung über die Dinge, für die man die Verantwortung übernimmt, um sie einem angemessenen Zweck zuzuführen“. Regierung hat also eine Zweckmäßigkeit: „eine Verfügung über die Dinge, um sie einem angemessenen Zweck zuzuführen„; und auch hier glaube ich, daß Regierung in einem sehr deutlichen Gegensatz zu Herrschaft steht. Gewiß, auch Herrschaft ist in den philosophischen und juristischen Texten niemals als ein bloßes Recht dargestellt worden. Weder die Juristen noch gar die Theologen haben je gesagt, daß der rechtmäßige Herrscher seine Macht einfach ausüben darf, Punkt, Aus. Der gute Herrscher muß sich ein Ziel setzen: „das Gemeinwohl und Heil aller“.

Ich nehme als Beispiel einen Text vom Ende des 17.Jahrhunderts; Pufendorf sagt: „(Den Herrschern) ist ihre Herrschaft nur verliehen, daß sie sich ihrer bedienen, um den öffentlichen Nutzen zu mehren und zu erhalten„(*). Ein Herrscher darf sich nur zum Vorteil anrechnen, was auch dem Staat frommt. Worin besteht nun dieses Gemeinwohl oder Heil aller, von dem die Juristen sprechen und auf das sie sich als eigentlichen Zweck von Herrschaft berufen? Wenn Sie sich den realen Inhalt ansehen, mit dem die Juristen und Theologen diesen Begriff füllen, dann ist Gemeinwohl gegeben, wenn die Untertanen allesamt und bedingungslos die Gesetze befolgen, die ihnen auferlegten Pflichten erfüllen, die ihnen zubestimmten Berufe ausüben und sich an die überkommene Ordnung halten, zumindest in dem Maße, wie diese Ordnung den Gesetzen entspricht, die Gott Natur und Menschen auferlegt hat. Öffentliches Wohl heißt also im wesentlichen, Gesetze befolgen - das Gesetz des irdischen Herrn oder das Gesetz Gottes, des absoluten Herrn. In jedem Fall ist der Zweck von Herrschaft - das Allgemeinwohl - nichts anderes als völlige Unterwerfung. Das bedeutet, daß der Zweck von Herrschaft zirkulär ist: Er fällt zusammen mit der Ausübung von Herrschaft selbst; das Wohl ist Gesetzesgehorsam, also liegt das Wohl, das sich Herrschaft zum Ziel setzt, im Gehorsam der Untertanen. Diese grundlegende Zirkularität wie auch immer ihre theoretische Struktur, moralische Rechtfertigung und praktischen Auswirkungen aussehen - ist nicht so weit entfernt von Machiavelli, wenn er erklärt, daß das Hauptziel des Fürsten im Erhalt des Fürstentums liegen muß; wir befinden uns immer noch im zirkulären Verhältnis der Herrschaft oder des Fürstentums zu sich selbst.

Mir scheint nun, daß mit La Perrieres Neudefinition von Regierung oder seinen Definitionsversuchen, ein anderer Typus von Zweckmäßigkeiten auftaucht. Regierung wird von La Perriere definiert als eine Weise der rechten Verfügung über die Dinge, die nicht der Form des „Gemeinwohls“ zugeführt werden sollen - wie es in den Texten der Juristen hieß -, sondern einem „Zweck“, der jedem einzelnen dieser Dinge, die da regiert werden sollen, „angemessen“ ist. Das impliziert zuallererst eine Vielfalt je spezifischer Zwecke; die Regierung muß dafür sorgen, daß möglichst viele Reichtümer produziert werden, daß die Lebensmittelversorgung für die Bevölkerung ausreichend oder sogar so gut wie möglich ist, daß die Bevölkerung sich mehren kann usw.... Eine ganze Reihe spezifischer Zweckmäßigkeiten also, die nun zum Ziel der Regierung werden. Und um zu diesen verschiedenen Zwecken zu gelangen, verfügt man über die Dinge; und dieses Wort „verfügen“ ist wichtig, denn was der Herrschaft gestattet, zu ihrem Zweck - Gesetzesgehorsam - zu gelangen, war das Gesetz selbst; Gesetz und Herrschaft fielen zusammen. Hier hingegen handelt es sich nicht darum, den Menschen ein Gesetz aufzuerlegen, sondern über die Dinge zu verfügen, das heißt, eher Taktiken als Gesetze anzuwenden, oder, im äußersten Fall, die Gesetze so weit wie möglich als Taktiken einzusetzen; so handeln, daß durch den Einsatz bestimmter Mittel dieser oder jener Zweck erreicht wird.

Ich glaube, wir stehen hier vor einem wichtigen Bruch: Während der Zweck von Herrschaft in ihr selbst liegt und sie ihr Instrumentarium in Form von Gesetzen aus sich selbst bezieht, liegt der Zweck von Regierung in den Dingen, über die sie verfügt; er ist in der Perfektionierung, Maximierung oder Intensivierung der Prozesse zu suchen, die sie in die Wege leitet, und ihr Instrumentarium besteht nicht mehr aus Gesetzen, sondern aus den unterschiedlichen Taktiken. Ein Schwinden des Gesetzes also, oder besser - aus der Perspektive künftiger Regierung - das Gesetz wird ganz bestimmt nicht mehr das Hauptinstrument sein. Auch hier findet man das Thema wieder, das schon im ganzen 17.Jahrhundert kursierte und im 18.Jahrhundert in allen Texten der Ökonomen und Physiokraten deutlich zutage tritt, wenn sie erklären, daß die Zwecke der Regierung ganz gewiß nicht durch das Gesetz erlangt werden könnten.

Schließlich, vierte Bemerkung, immer noch den Text Guillaume de La Perrieres betreffend, der sagt, ein guter Regierender müsse „Geduld, Weisheit und Eifer„7 aufbringen. Was ist unter „Geduld“ zu verstehen? Zur Erklärung des Wortes Geduld führt er das Beispiel des „Königs der Honigfliegen“ an, das heißt, der Drohne: „Die Drohne herrscht über den Schwarm, ohne einen Stachel zu benötigen„8. Gott hat dadurch - „auf mystische Weise“, so La Perriere - gezeigt, daß der wahre Regierende in der Ausübung seiner Regierung auf einen Stachel - das heißt das Recht zu töten, das Schwert - verzichten können muß; Geduld steht ihm besser an als Zorn, oder anders, das Recht zu töten und sich mit Gewalt Geltung zu verschaffen darf nicht der wesentliche Aspekt der Person des Regierenden sein. Welchen positiven Gehalt kann man dieser Abwesenheit des Stachels geben? „Weisheit und Eifer“. „Weisheit“, das ist nicht ganz jener traditionelle Begriff der Kenntnis von Recht und Gerechtigkeit, sondern bedeutet eben Kenntnis der Dinge, der Ziele, die man erreichen kann und soll, die „Verfügung“, die man nutzen muß, um sie zu erreichen - diese Kenntnisse bilden die Weisheit des Herrschers. Und der „Eifer“ des Herrschers, oder genauer: des Regierenden liegt darin, daß er gewissermaßen als Diener der von ihm Regierten handeln und sich betrachten muß. Auch hier beruft sich La Perriere auf das Beispiel des Familienvaters: Der Familienvater steht früher auf und legt sich später schlafen als alle anderen Familienmitglieder, er kümmert sich um alles, denn er betrachtet sich als Diener seines Hauses.

Wie sehr sich diese Charakterisierung von Regierung von der des Fürsten bei Machiavelli unterscheidet, leuchtet Ihnen unmittelbar ein. Gewiß, der Begriff von Regierung ist hier noch sehr unausgebildet, trotz einiger neuer Aspekte. Ich denke, daß diese erste Skizze des Begriffs und der Theorie der Regierungskunst im 16.Jahrhundert gewiß nicht in der Luft hängt; sie war nicht nur Sache der politischen Theoretiker. Ich glaube, daß sich Entsprechungen in der Wirklichkeit finden lassen. Einerseits war die Theorie der Regierungskunst vom 16.Jahrhundert mit der gesamten Entwicklung der territorialen Monarchien verbunden (Entstehen von Regierungsapparaten und -strukturen usw....); und sie war verbunden mit einem ganzen Komplex von Analyse und Wissensformen, die sich seit dem Ende des 16.Jahrhunderts entwickelt haben und im 17.Jahrhundert ihren vollen Umfang angenommen haben, vor allem mit jener Staatslehre, die den Staat in seinen verschiedenen Bedingtheiten, Dimensionen und Machtfaktoren beschreibt und der man als Wissenschaft vom Staat den Namen „Statistik“ gab. Drittens und letztens glaube ich, daß der Zusammenhang zwischen dieser Suche nach einer Regierungskunst und Phänomenen wie dem Merkantilismus und Kameralismus nicht zu leugnen ist.

Um es sehr schematisch zu sagen: Die Regierungskunst bildet an der Wende vom 16. zum 17.Jahrhundert ihre erste Kristallisationsform aus, dabei strukturiert sie sich um das Thema einer Staatsräson, die noch nicht im heutigen pejorativen und negativen Sinne verstanden wird (die Zerstörung von Prinzipien des Rechts und der Menschlichkeit aus Staatsinteresse), sondern im vollen und positiven Sinne. Der Staat regiert sich nach vernünftigen Gesetzen, die ihm allein eigentümlich sind, die sich also nicht einfach aus Natur- oder göttlichen Gesetzen ableiten und auch nicht nur aus Weisheits- und Vorsichtsregeln; der Staat hat seine ganz eigene Rationalität, wie die Natur, auch wenn sie von anderer Art ist. Umgekehrt muß Regierungskunst die Prinzipien ihrer Rationalität - statt sie in transzendenten Regeln, kosmologischen Modellen, philosophischen und moralischen Idealen zu suchen - in der spezifischen Wirklichkeit des Staats begründen. Von diesen Elementen einer ersten Staatsrationalität werde ich in der nächsten Sitzung handeln. Aber man kann jetzt schon sagen, daß diese Staatsräson für die Entwicklung der Regierungskunst sehr schnell eine Art Hemmnis darstellte, das bis Ende des 18.Jahrhunderts Bestand hatte. (...)

Ein Wort noch: Wenn ich meinem diesjährigen Kurs einen genaueren Titel hätte geben wollen, so hätte ich sicher nicht den jetzigen Titel „Sicherheit, Territorium und Bevölkerung“ gewählt; was mir jetzt vorschwebt, wäre so etwas wie eine „Geschichte der Regimentalität“ („histoire de la gouvernementalite“). Mit diesem Wort meine ich dreierlei: Erstens die Gesamtheit von Institutionen, Handlungsformen, Analyse- und Denkweisen, Kalküls und Taktiken, die die Ausübung jener spezifischen, wenn auch komplexen, Machtform möglich macht, welche die Bevölkerung zum Hauptgegenstand, die Nationalökonomie („economie politique“) als wesentliche Wissensform, und die Sicherheitsdispositive als wichtigstes technisches Instrument hat. Zweitens verstehe ich darunter: Die Tendenz oder Kraftlinie, die im gesamten Abendland über einen sehr großen Zeitraum hinweg zur Vorherrschaft des Machttyps, den man „Regierung“ nennt, über alle anderen Machttypen geführt hat: Herrschaft, Disziplin usw...; was einerseits eine ganze Reihe spezifischer Regierungspparate und andererseits eine ganze Reihe spezifischer Wissensformen mit sich bringt. Schließlich verstehe ich darunter den Prozeß, oder besser: das Ergebnis des Prozesses, durch den aus dem Justizstaat des Mittelalters, der sich im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat gewandelt hatte, nach und nach ein regierter Staat wurde („s'est peu a peu 'gouvernementalise'“).

Man weiß, welche Faszination heute Staatsliebe und -haß auslösen; es ist bekannt, mit welcher Hingabe Geburt, Geschichte, Fortschritte, Macht und Machtmißbräuche des Staats studiert werden. Diese Überbewertung der Staatsproblematik begegnet im wesentlichen, glaube ich, in zwei Formen. In einer unmittelbaren, affektiven und tragischen Form: Das ist das alte Lied vom kalten Ungeheuer, das uns gegenübersteht; die Überbewertung der Staatsproblematik kann noch eine andere Form annehmen - eine paradoxe, da sie den Staat eher zu reduzieren scheint: jene Analyse, die den Staat auf eine bestimmte Anzahl von Funktionen zurückführen will, wie zum Beispiel die Entwicklung der Produktivkräfte, die Reproduktion der Produktionsverhältnisse, und genau diese Rolle, die den Staat auf etwas anderes reduziert, macht ihn doch zu einem Hauptangriffspunkt und - Sie wissen es alle - zu einer besonders gern besetzten Position. Aber der Staat hat diese Einheitlichkeit, diese Individualität, diese strenge Funktionalität, und ich würde sogar sagen: diese Wichtigkeit weder heute noch in der Geschichte je gehabt; letztlich ist der Staat vielleicht nur eine zusammengesetzte Wirklichkeit, eine mythifizierte Abstraktion, die viel unerheblicher ist als man glaubt. Was dagegen vielleicht wirklich wichtig ist für unsere Moderne, das heißt unsere Aktualität, ist nicht die Verstaatlichung der Gesellschaft, sondern das, was ich eher die „Ver-Regierung“ („gouvernementalisation“) des Staates nennen würde.

Wir leben in der Ära der „Regimentalität“, die im 18. Jahrhundert entdeckt worden ist. „Ver-Regierung“ des Staates - ein besonders verzwicktes Phänomen: denn, wenn die Probleme der Regimentalität, die Techniken von Regierung tatsächlich zum eigentlichen politischen Angelpunkt geworden sind, zum einzig wirklichen Schauplatz politischer Kämpfe und Streitigkeiten, so ist es doch diese Ver-Regierung des Staates, die ihm zuletzt die Fortexistenz gestattet hat. Und wenn der Staat heute so ist, wie er ist, dann wahrscheinlich dank dieser Regimentalität, die ihm zugleich innerlich und äußerlich ist, denn es sind die Regierungstaktiken, die es in jedem Moment erlauben festzulegen, was den Staat angeht und was nicht, was öffentlich und was privat, was staatlich und was nicht staatlich ist usw... So ist der Staat in seinem Überleben und in seinen Grenzen, wenn Sie so wollen, nur zu verstehen durch die allgemeinen Taktiken der Regimentalität.

Und vielleicht könnte man - in einer ganz und gar globalen, groben und folglich ungenauen Weise - die großen Machtformen oder -ökonomien folgendermaßen darstellen: zunächst der Justizstaat, der in einer Territorialität feudalen Typs entstanden ist und im Großen und Ganzen einer Gesellschaft des Gesetzes - des Gewohnheits- und geschriebenen Rechts entspräche, mit einem ganzen System von Rechtsverbindlichkeit und -streit; zweitens der Verwaltungsstaat, der im 15. und 16. Jahrhundert in einer Territorialität der Grenzen und nicht mehr des feudalen Typs entstanden ist und der einer Gesellschaft der Reglements und Disziplin entspricht; und schließlich der Regierungsstaat, der nicht mehr so sehr durch seine Territorialität - die von ihm besetzte Oberfläche - definiert ist, sondern durch eine Masse: die Masse der Bevölkerung mit ihrem Volumen, ihrer Dichte und, natürlich, mit dem Territorium, das aber gewissermaßen nur noch ein Bestandteil dieser Masse ist. Und dieser Regierungsstaat, der sich im wesentlichen auf die Bevölkerung stützt und der sich bezieht auf ein wirtschaftliches Wissen und es als Instrument einsetzt, entsprächer einer durch Sicherheitsdispositive kontrollierten Gesellschaft. (...)

1. De La Perriere (G.), Le Miroir politique, contenant diverses manieres de gouverner et policer les republiques, Paris 1555 (zitiert nach der Ausgabe von 1567).

2. De La Mothe Le Vayer (F.), L'oeconomique du Prince, Paris (Courbe) 1653.

3. De La Mothe Le Vayer (F.): 1) La geographie et la morale du Prince, Paris (Courbe) 1651; 2) L'oeconomique du Prince, Paris (Courbe) 1653; 3) La politique du Prince, Paris (Courbe) 1653.

4. „Ökonomie: dies Wort kommt von oikos, Haus, und nomos, Gesetz, und bedeutet ursprünglich nur die weise und rechtmäßige Regierung des Hauses für das Gemeinwohl der ganzen Familie.“, Rousseau (J.J.), Discours sur l'Economie politique, (1755), in Oeuvres completes, Bd. 3, „Du contrat social. Ecrits politiques“, Paris (Gallimard, coll. La Pleiade) 1964, S. 241.

5. De La Perriere (G.), op. cit., S. 46.

6. Friedrich II., Anti-Machiavel ou Essai de Critique sur „Le Prince“ de Machiavel, Den Haag 1740.

7. „Jeder, der ein Königreich oder eine Republik regiert, muß unbedingt Weisheit, Geduld und Eifer in sich tragen.“ De La Perriere (G.), op. cit., S. 46

8. „Auch Geduld muß der Regierende haben, wie zum Beispiel der König der Honigfliegen, der keinen Stachel hat, womit Natur auf mystische Weise hat zeigen wollen, daß die Könige und Regierenden der Republiken ihren Untertanen weit eher Milde als Unerbittlichkeit und Gerechtigkeit als Strenge erweisen sollen.“ Ibid.

(*) Pufendorf (S., Baron von), Le droit de la nature et des gens ou Systeme genral des principes les plus importans de la morale, de la jurisprudence et de la politique, traduit du latin par Jean Barbeyrac, 3 Bde., London (4. Aufl.) 1740, Bd. 3, S. 247. (A.d.Ü.)

Übersetzung: Thierry Chervel

Wir entnehmen diesen Text der Kassettenausgabe der Vorlesungen Michel Foucaults am College du France, die zur Zeit in 24 Kassetten im Verlag Seuil erscheinen. Die Druckfassung der Vorlesung wird 1990 bei Gallimard herauskommen.