In den Schraubstock

 ■  Ein kleiner Führer durch 20 Seiten Buchmessenbeilage

Salman Rushdie ist kein Thema auf der Messe. Der Autor der „Satanischen Verse“ lebt noch immer im Versteck. Die Mordbefehle sind nicht zurückgenommen, der Buchmarkt floriert. Der Börsenverein meldet Umsatzsteigerungen, und wer versucht, Rushdies Bücher auf der Messe zu zeigen, den weist er höflich auf sein Verantwortungsbewußtsein hin. Der Terrorismus einiger Fanatiker scheint zu siegen. Bleibt die Hoffnung, daß die Medien den Autor nicht vergessen haben und die Buchmesse dazu nutzen, an die Morddrohung zu erinnern.

Auf der ersten Seite dieser Buchmessenbeilage hatte ein Rushdie-Gedicht stehen sollen. Es handelt von seiner derzeitigen Situation: „Die Augen haben sie rausgerissen. Die Zähne sind weg,/ In den Schraubstock gedreht und dann aufgespießt./ Auf meine Stirn schrieben sie 'Hundsfott‘! Und 'Schuft‘!/ Kaum daß ich mein Gesicht noch erkenn'/.... Aber mit oder ohne Namen, Gesicht - eines ist klar:/ Schweigen werd ich nicht. Weitersingen, den Attacken zum Trotz...“. Wir können es leider nicht abdrucken. Der Agent hat uns die Rechte nicht gegeben.

Günter Grass geht in einem Gespräch in dieser Beilage kurz auf die Morddrohung gegen Rushdie ein. Sonst: auch hier kein Wort über Rushdie.

Die in die Beilage eingestreuten Definitionen stammen alle von Richard Nöbel. Er war Villa Massimo-Stipendiat und arbeitet als Setzer bei der taz. Die Definitionen sind Teile seiner privaten Enzyklopädie. Vielleicht hat er recht, und wir müssen das Buch, das wir lesen wollen, selbst schreiben. Aber solange es so viel so Schönes zu lesen gibt, wird beim Zweikampf zwischen Sessel und Schreibtisch meist ersterer den Sieg erringen.

Im Zentrum der Buchmesse 1989 steht Frankreich. Man rechnet mit riesigem Aufwand, Pomp and Circumstances. Darüber vielleicht mehr von der Messe. Wer wird schon zu all den Empfängen gehen können? Wie strapazierfähig ist ein Magen, der tagsüber nur mit den herrlichen Lakritzspiralen des Tazstandes traktiert wird? Überlebt er Ente auf Orange, zartgedünstete Gemüse und Schattenmorellen? Die Buchmesse ist ein Härtetest an dieser und an der Getränkefront. Zum Lesen kommt niemand. Die Fotos, die man in manchen Zeitschriften sehen kann, auf denen ein weißhaariger älterer Mann oder ein kleines Mädchen in der Ecke eines Messestandes auf einem Stühlchen sitzen und völlig in ein Buch versunken sind, lügen. Niemand liest auf der Messe. Dazu ist sie nicht da. Wer lesen möchte, der verläßt das Messegelände und sucht ein leeres Cafe, und liest dort Peter Handke, Thomas Hetche oder Domenica. Auf der Messe wird der Bestseller-Handel blühen, der Champagner fließen, die Buffets werden überquellen und jeder wird sein Schnäppchen machen wollen. Auch wir haben keine Kosten und Mühen gescheut und Texte von Michel Foucault und Paul Virilio herbeigeschafft, übersetzt und ins Blatt gebracht. Jetzt wünschen wir uns, daß unsere Leserinnen und Leser sie ebenso anregend finden wie wir der Virilio-Text ist auch in Frankreich bisher noch unveröffentlicht.

Eröffnet wird unsere Beilage durch einen Beitrag, der einen Überblick über die literarische Landschaft Frankreichs im Jahre 1989 zu geben versucht. Eine angenehm zu lesende, informative Einführung.

Die Abbildungen waren uns diesmal besonders wichtig. Sarah Schumanns Afrika-Eindrücke ergänzen Günter Grass‘ Ausführungen zu Indien. Michel Foucaults Überlegungen zur Genese der Regierungskunst erhalten eine Brechung durch Jörg Hess‘ Aufnahmen vom Sozialverhalten afrikanischer Berggorillas und Ulrich Horstmanns Betrachtungen über das richtige Katastrophenbewußtsein werden durch den schönen Schein einer sehr brüchigen marmornen Ewigkeit illustriert. Marie Marcks‘ gezeichneten Erinnerungen hätten wir gern mehr Platz gegeben. So freundlich ironisch zeigen sie, woher wir kommen. Und die Literatur? Keine Erzählung diesmal. Dafür jede Menge Buchbesprechungen: Edmond Jabes, Francoise Bouillot, Paul Austers, Raymond Federman, Thorsten Becker, Martin Grzimek, Peter Handke, Natascha Wodin. Ja es gibt, wenn unser Rezensent sich nicht täuscht, sogar eine richtige Entdeckung: Thomas Hetche. Der junge, in Frankfurt/Main lebende Mann hat mit „Ludwig muß sterben“ einen „Geniestreich“ vorgelegt. Der ehemalige Hungertuch -Preisträger scheint seinen Weg zu machen. Dieses Jahr geht das seit 1976 vergebene „Hungertuch für einen unbekannten Autor“ an die Theaterautorin Kerstin Specht. Preisverleihung ist am 14. Oktober 1989 um 15 Uhr im Theatersaal des Künstlerhauses Mouson in Frankfurt/Main. Der unbekannten Autorin unbekannterweise einen herzlichen Glückwunsch.

Für alle, die es noch nicht wissen: Jeden Freitag erscheinen in der taz zwei Seiten, die ganz dem Buch gewidmet sind. Mindestens ein Gedicht ist jedes Mal dabei, dazu drei bis sechs Rezensionen, auch mal eine Kurzgeschichte. Alle 14 Tage bringen wir eine Seite „Das politische Buch“. Hier wird das mörderisch Ernste besprochen und den Leserinnen und Lesern näher gebracht. Hingewiesen sei ganz und gar schamlos auf zwei Anzeigen. Da ist zunächst die Taz-Anzeige auf dieser Seite. Abonnenten können wir zwar nicht jeden Tag einen ungeteilten Genuß versprechen, aber sicher ist, daß ihnen keine der fünfundvierzig Taz-Preziosen pro Woche entgeht. Dann ist da die letzte Seite dieser Beilage. Lettre International. Lettre ist nicht nur, wie der Wiener Standard schreibt, „Europas kleinster Pressemulti“, sondern die auflagenstärkste, Literaturzeitschrift deutscher Sprache. Der Erfolg gibt der Konzeption recht. In einer Welt, in der angeblich keiner mehr längere Texte lesen will, schafft Lettre mit seinen ausschweifenden Reflektionen auf vielen Seiten aus dem Stand 25 000 Käufer. Wenn es gelingt, da noch ein, zwei Jahre zu investieren, wird Frank Berberich und seinen Mitarbeiterinnen mit (kleiner) Unterstützung der taz ein publizistisches Wunder gelungen sein: eine erfolgreiche Literaturzeitschrift in der BRD.

Am 2. Dezember wird es eine weitere große Buchbeilage in der taz geben. Diesmal hoffentlich mit einer schönen Erzählung. Wer eine in der Schublade hat, der schicke sie, wenn sie nicht länger als fünfzehn und nicht kürzer als fünf Seiten ist, an die tageszeitung zu Händen Arno Widmann, Kochstr. 18, 1000 Berlin 61. Wir suchen uns die schönste raus.

A.W.