New Yorker Nebengeräusche

■ Manhattan ist nicht Moskau

Hans Christoph Buch

New York liegt nicht nur auf demselben Breitengrad wie Neapel, es ist auch genauso laut. Wie alles hier, ist der Lärm vollautomatisiert: das Gurgeln des Wassers in der Wasserleitung, das Pfeifen im Luftschacht oder das schmatzende Geräusch, mit dem der Müllschlucker den Müll schluckt und sechsundzwanzig Stockwerke tiefer auf den Boden prallen läßt; dazu das Surren des Kühlschranks, das Rumpeln der Spülmaschine, das Plärren des Transistorradios, das Hupen der Taxis, das Tuten der Feuerwehren, das Heulen der Alarm- und Polizeisirenen, die bei Tag und bei Nacht das Haus umbranden, und der nach Programmschluß unbeirrt weiter plappernde Fernsehapparate. Die Stadt - falls man die permanente Geräuschkulisse so nennen will - ist eine Orgie von Mißtönen, eine Orchesterprobe auf hoffnungslos verstimmten Instrumenten. New York besteht nur noch aus Nebengeräuschen; es gibt keine einheitliche Lärmquelle mehr, auf die sich die allgemeine Kakophonie zurückführen ließe. Manhattan ist nicht Moskau oder Peking, wo die Worte des jeweiligen Vorsitzenden über die Köpfe der Bevökerung hinweg zentral verrieselt werden, auch wenn die Grenze zwischen China und der Sowjetunion heute quer durch Brooklyn und Long Island verläuft: Im Zentrum des amerikanischen Traums herrscht Funkstille, der Lautsprecher des Staates wird übertönt von den einander überscheienden Slogans der Werbung.

Die Planer in Washington sind ratlos, seit Big Brother auf der anderen Seite seine Propagandasendungen eingestellt und statt dessen auf Empfang geschaltet hat, die Strategen des Pentagon sehen eine trübe, geschichtslose Zeit heraufdämmern und sehnen sich zurück nach den überschaubaren Fronten des kalten Krieges, den man auf Vorrat hätte einfrieren sollen, anstatt den eisernen Vorhang durch Mikrowellenbeschuß zu durchlöchern. Aber dafür ist es jetzt zu spät; Amerika hat keine Angst mehr vorm Kommunismus; mehr als von Ortega oder Noriega, Chomeini und Gaddafi fühlt es sich bedroht von Hurrikan Hugo, dem Ölteppich in Alaska, dem Ozonloch über der Antarktis, dem sauren Regen über Kanada und den brennenden Regenwäldern am Amazonas, nicht zu vergessen das Drogenkartell von Medellin. Das Leben eines Säuglings in der Bronx beginnt heute mit Entzugserscheinungen - anstatt nach der Mutterbrust wimmern die Neugeborenen nach Kokain - und endet vorzeitig im Warten auf die Wunderdroge, die Aids ein für alle Mal aus der Welt schaffen soll.

„Amerika hat eine Todesrate von hundert Prozent“, sagte der Oberarzt der Nation, der Surgeon General kürzlich im Fernsehen, „jeder, der hier geboren wird, stirbt auch.“ Aber ich will keine Katatstrophenstimmung verbreiten. Die Endzeit ist unbemerkt zu Ende gegangen, der Weltuntergang findet nur noch in den Sechs-Uhr-Nachrichten statt, zwischen rush -hour und happy-hour, wenn sich die Bewohner des Global Village zur Märchenstunde um den flackernden Bildschirm versammeln, und nach der zweiten Büchse Budweiser light ist die kaputte Welt wieder in Ordnung.

Wenn man den Meinungsumfragen Glauben schenkt, wird der nächste Bürgermeister von New York Dinkins heißen und schwarz sein. In Wirklichkeit ist er eher milchkaffeebraun, aber das ist keine Frage der Hautfarbe, sondern eine Statusfrage: Dinkins gehört zu den wenigen Schwarzen, die den sozialen Aufstieg geschafft haben, und dem das big business zutraut, die Stadt zu befrieden und eine weitere Eskalation des Rassenkonflikts zu verhindern, der in Brooklyn und Queens täglich neue Opfer fordert. Die Verlierer der sogenannten Reagan-Revolution, die den Superreichen Steuerersparnisse und den Yuppies Börsengewinne bescherte, waren die Armen jedweder Couleur: schwarze Ghettobewohner, wirtschaftliche und politische Flüchtlinge aus der Karibik und Mittelamerika, Schulkinder und Rentner, Aidskranke und Obdachlose, nicht zu vergessen die Seeotter im Prince Williams Sound und die Redwoodtrees von Nordkalifornien, die Reagan zum Abholzen freigab mit der Begründung: „Wer einen gesehen hat, kennt sie alle...“

Dem Gesetz der steigenden und fallenden Profitrate folgend, liegt eine neue Trendwende in der Luft, diesmal nach links. Der politische Aufstieg von Dinkins signalisiert eine Neuauflage der Bürgerrechtskoalition jüdischer Liberaler mit urban blacks, die, mit Unterstützung von Teilen der Kirche und des weißen Mittelstands, in den sechziger Jahren die Rassentrennung in den Südstaaten und später den Vietnamkrieg beendeten. Dieser in der Reformära des New Deal entstandene demokratische Konsens zerfiel in den siebziger Jahren unter dem Druck des Terrorismus von links nach rechts. Juden und Schwarze mißtrauten plötzlich einander die einen, weil sie mit Israel, die andern, weil sie mit Palästinensern sympathisierten - und zogen sich in die Wagenburgen ihrer ethnischen oder religiösen Identität zurück. Fortschrittliche Minderheiten überließen konservativen Christen und reaktionären Fundamentalisten das Feld, deren TV-Propaganda Reagan seinen ersten Wahlsieg verdankt. Erst mit der Verurteilung des Fernseh-Evangelisten Jim Bakker, der nach einem Sexskandal nun auch noch der Unterschlagung von Millionen für schuldig befunden wurde, hatte der Spuk ein Ende. Wenn sich heute in New York Juden und Schwarze mit Einwanderern aus Lateinamerika und Ostasien zu einer neuen Regenbogenkoalition zusammenfinden, so vor allem deshalb, weil Amerika inzwischen mehrheitlich aus Minderheiten besteht, so daß keine Gruppe mehr allein ohne die Unterstützung der anderen regieren kann. Die New Yorker Bürger - quer durch ethnische Gruppen und politische Parteien - scheinen es dem wortkargen Dinkins eher zuzutrauen, den drohenden Rassenkrieg abzuwenden, als dem Heißsporn Ed Koch, der durch Finanzskandale und mangelnde Sensibilität gegenüber Schwarzen seine Glaubwürdigkeit verspielt hat.

Aber selbst wenn es Dinkins gelingt, die Explosion des aufgestauten Unmuts zu verhindern, sitzt New York noch immer auf einem Pulverfaß, genauer gesagt auf einem Faß ohne Boden. Die Stadt, vor hundert Jahren ein Wunderwerk modernster Technik, ist heute museumsreif, ein Schrotthaufen aus dem Fin-de-Siecle, der wie eine Zeitbombe dem Zusammenbruch entgegentickt, nicht durch Explosion, sondern durch Implosion aufgrund fortschreitender Materialermüdung. Der felsige Untergrund von Manhattan ist mit Rohrsystemen durchlöchert wie ein Schweizerkäse: Kanäle, Tunnel, U -Bahnschächte, Wasser-, Gas- und Stromleitungen sind von Rissen durchzogen und von Rost zerfressen: der Stahlbeton aus den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren, der die Brücken und Unterführungen der Stadtautobahn trägt, ist porös wie ein mit Wasser vollgesogener Schwamm. Schulen, Hospitälern und anderen städtischen Versorgungseinrichtungen droht der Kollaps, weil sie, technisch und personell unzureichend ausgestattet, mit Problemen konfrontiert sind, die selbst bei großzügigster Aufstockung ihrer Etats nicht zu lösen sind - Stichworte Crack und Aids. Hinzu kommt das von Bürgermeister Koch hinterlassene Defizit im Finanzhaushalt sowie sinkende Steuereinnahmen - europäische und japanische Multis investieren lieber im sonnigen Florida oder im steuergünstigen Kalifornien - und das bei einer Bevölkerung, deren arbeitender Teil eine gewerkschaftlich straff organisierte Minderheit darstellt, während die Mehrheit von Wohlfahrtschecks lebt - von der wachsenden Kriminalität ganz zu schweigen: der einzige Sektor, der vierstellige Zuwachsraten verzichnet, ist der Drogenhandel. Und doch, sagen die Optimisten, wird die immer wieder totgesagte Stadt New York mit ihrer frisch renovierten U -Bahn finanziell saniert und schöner denn je als Phönix aus der Asche aufsteigen. Dinkins wird's schon schaffen - mit Hilfe von Gewerkschaften und Kapital, Yuppies und Intellektuellen, Krediten der Wall Street und Finanzspritzen aus Washington, Wunder waren immer schon made in America.

In diesen Tagen ging die Meldung durch die Presse, daß die sterblichen Überreste von der US-Armee getöteter Indianer, nachdem sie über hundert Jahre lang in Archiven verstaubt sind, endlich den trauernden Hinterbliebenen zurückerstattet werden sollen. Aber die Indianer sind undankbar. Obwohl sie jahrzehntelang für die Rückführung ihrer getöteten Angehörigen kämpften, weigern sich ihre Medizinmänner, die Skelette in Empfang zu nehmen, mit der Begründung, durch die Zergliederung in Anatomien und die Zurschaustellung in Museumsvitrinen seien die Toten entweiht worden. Und viele Museumsdirektoren sind nicht bereit, ihre Archive zu öffnen, um wertvolle Knochen, Schädel und Skalpe erneut unter der Erde verschwinden zu lassen, aus der die Archäologen sie mit soviel Mühe ausgegraben haben. Die Rückführung der Toten wird zum Politikum, das Unruhe in die Reservate der Wissenschaft trägt: Aus ihrer Sicht ist der beste Indianer noch immer ein toter Indianer - vorausgesetzt, er ruht hinter Glas, und nicht unter Gras.

Was gibt es sonst noch Neues aus New York zu berichten? Das beliebteste Haustier sind zur Zeit Geckos aus der Wüste von New Mexico: tagsüber schlafen sie auf der dunklen Seite des Kühlschranks, und bei Nacht machen sie Jagd auf Kakerlaken, an denen in Manhattan kein Mangel herrscht. Angeblich ist nach sechs bis acht Wochen auch das verkommenste Apartment garantiert kakerlakenfrei. Der Gecko hat seine Pflicht getan und verhungert, wenn niemand für Nachschub sorgt.

Zu den kulturellen Attraktionen dieses Herbstes gehört ein neunzigminütiger Dokumentarfilm über Thelonious Monk, den der Hollywoodschauspieler Clint Eastwood produziert hat, ein dreiwöchiges Theaterfestival der Castillo-Kulturfabrik, auf dessen Höhepunkt der DDR-Dramatiker Heiner Müller von einem Dritte-Welt-Tribunal als rassistischer Frauenfeind entlarvt und symbolisch zum Tod verurteilt wurde, sowie das bevorstehende Konzert der Rolling Stones, zu dem ich mit viel Mühe eine Karte bekommen habe: darüber nächstens mehr.