TOFUBURGER UND MANDARINE

■ Ein Symposion über Geschichte als Literatur in Zehlendorf

Estragon: Wir finden doch immer was, um uns einzureden, daß wir existieren, nicht wahr, Didi?

Wladimir (ungeduldig): Ja, ja, wir sind Zauberer.

Samuel Beckett, Warten auf Godot

Was sagt sie, die ehemals „deutsche Wissenschaft“, wenn sie sich der Geschichte stellt? Wie wirkt Geschichte in Literatur? Was unterscheidet Wissenschaft und Fiktion? Mit diesen Fragen befaßten sich letzte Woche im Clubhaus der FU fünfzig Germanisten, Literaturwissenschaftler und Historiker auf einer internationalen Tagung anläßlich des 65. Geburtstages von Eberhard Lämmert.

Glaubte man tatsächlich, eines „wissenschaftshistorischen Augenblicks“ teilhaftig zu sein, der Geschichte und Literatur versöhnte? Klar wurde eher: Die „Kritische Theorie“ ist out. Der letzte Schrei kommt aus Amerika.

Wissenschaft als Selbstzweck? Für die meisten schon. Manche nur haben ihn noch nötig, den Bezug zur Praxis. Andere hocken in den Weiten des „Diskurses“ und produzieren Akademikerprosa für Studierte. Die Reflexion des eigenen Standpunkts, Kritik und Selbstkritik sind für viele Schnee von gestern. Drei Tage Diskussion akademischer Mandarine also? - Eben nicht nur. Ein paar Referenten zeigten, daß es auch anders geht: Geschichten als Fenster zur Geschichte, Lesen als die Lust, sie zu öffnen, Historik als „Wissenschaft von der Veränderung“ (Ulrich Raulff, Berlin/Paris). Und es gab einen Nachhilfekurs: Aufklärungsunterricht in Sachen Wissenschaftsmagie und Pfründepoker.

Ulrich Raulff sprach über Marc Bloch. Er porträtierte den französischen Historiker als parteilichen Zeugen der Schlacht. Bloch, so Raulff, nahm teil an der Geschichte im doppelten Sinne: als Historiker und als Soldat des Ersten Weltkriegs. Er wurde Untersuchungsrichter der Geschichte und der Geschichten. Er analysierte die Gerüchte und Falschmeldungen in der „Grabengesellschaft“ (Raulff) der Frontlinie. Ein Zeuge, ein Parteigänger, ein Kritiker seines eigenen Verfahrens, drang Bloch ein in die „Dunstschicht unterhalb der eigentlichen historischen Quellen“ (Raulff). Kein akademischer Tranquilizer, keine nationale Sinnstiftung: bei Bloch muß Geschichte, so Raulff, immer zur Unruhe führen, Störfaktor sein. Auch ein Beitrag zum Historikerstreit.

Werner Röcke (Bayreuth) las über den Apollonius-Roman. Antike und Mittelalter - Röcke verglich zwei Versionen dieser Liebesgeschichte. Dabei wurden Teile der Handlung zu Chiffren von Mentalitäten, Zeichen für Haltungen. Der Kontrast der Epochen als Grundlage für einen Laborversuch mit dem Ergebnis, daß beide Fassungen uns fremd bleiben, unangeglichen, nicht angeeignet. Der Roman wird zum Zeichen seiner Zeit, Geschichten werden durchlässig für die Geschichte, die sie schrieb.

Helmuth Lethens (Utrecht) „Blitzschnelle Metamorphosen sieben Überlegungen zu einem Putzfleck“ brachten eine kleine Romanszene von Manes Sperber zum Leuchten: Wie einen Meteor ließ Lethen die Geschichte diverser Lesarten ihrer selbst durchschlagen.

Die Wissenschaft folgt hier der Literatur. Sie läßt sie entkommen, läßt sie unbehelligt, bleibt ihr wendiger Schatten. Sie entwirft, spielt, bleibt zurück. Lethen kennt keinen Königsweg. Ein Vexierspiel der Methoden: keine Wahrheit, keine Pointe.

Seit Jahren wurden neue Methoden in der Literaturwissenschaft gefordert. Es wäre während der Tagung Gelegenheit gewesen, etwa die neuere französische Geschichtsschreibung und Philosophie auf ihre Prämissen zu prüfen. Aber dafür war keine Zeit. Auch nicht für Anke Bennholdt-Thomsen (Berlin), Peter von Matt (Zürich), Marianne Schuller (Hamburg) und ihre Versuche. Zwanzig Referate in zweieinhalb Tagen: perfekte Organisation, Diskussion mit der Stoppuhr.

Endlich war es dann soweit: Am letzten Tag öffneten die Magier aus Amerika ihren Zauberkoffer. Das weiße Kaninchen heißt New Historicism und ist der dernier cri der nordamerikanischen Kulturwissenschaft. Keine Theorie, eher eine Methode, sicher ein Trend. Frischzellen für die Germanistik? New H. ist interdisziplinär, anthropoligisch, kulturgeschichtlich. New H. ist amerikanisch, bunt, modern. New H. ist der „Tofu-Burger aus Berkeley“ (Anton Kaes, Berkeley) und schmeckte vielen nicht. Vor allem aber: New H. ist ein Ismus. Der Zwang zum Neuen beherrscht die Universitäten in den USA Akademisches Trendsetting: Aus den Ideen werden Ismen, aus den Ismen „Schulen“. Der Kampf um die Pfründe wird zum Vater der Idee.

Ein wissenschaftshistorischer Augenblick war das Symposion sicher nicht, aber viel schönen Schein von Offenheit gab es, viel Zauber modischer Ambivalenzen. Die Kritische Theorie der alten Linken als Jugendsünde scheint „bewältigt“. Nur einer warnte vor solchem Umgang mit der eigenen Geschichte, warnte davor den „alten“ Benjamin mit dem „neuen“ Benjamin auszutreiben. Germanistik und Historik - Wissenschaften von der Veränderung oder endgültig „free play in the blue“?

Hans-Joachim Neubauer