(Nichts) Neues aus England

„Wenn der neue Roman von Anita Brookner auf meinem Schreibtisch liegt, weiß ich, daß es Herbst ist“, seufzt Blake Morrison, der Chef des Feuilletons der englischen Wochenzeitung 'Observer‘. Zwei Wochen später trudelt der Neue von Penelope Lively ein, Iris Murdoch war Anfang Oktober soweit (rechtzeitig zum Booker-Preis), Kingsley Amis schafft es immerhin alle zwei Jahre. Ebenfalls termingerecht zur Vergabe des wichtigsten englischen Literaturpreises erschien die zweite Folge eines Romans von Margaret Drabble, der nichts Geringeres versucht, als die britische Gesellschaft am Ausgang des 20.Jahrhunderts darzustellen. Emma Tennant veröffentlicht bei mehreren Verlagen gleichzeitig, und Fay Weldon publiziert in einem Jahr mehr Worte, als so mancher Engländer in selben Zeitraum zu sprechen vermag.

Sieht man sich die genannten Neuerscheinungen näher an, versteht man die Schwermut, die Blake Morrison in diesem wie in jedem Herbst befällt. Er kennt die Autoren, also kennt er auch die Romane. Schließlich sind es die gleichen Geschichten, die sie in schöner Regelmäßigkeit wieder und wieder produzieren. Schließlich hat sich außer den Namen der Protagonisten auch in diesem Herbst wieder nichts geändert. Und wer diese Bücher lesen muß, als Rezensent etwa oder weil er in einem Zug sitzt und sein Nachbar ihm nichts anderes ausleihen kann, den kann man nur bedauern.

Dabei steht es um die englische Literatur keineswegs schlecht. Ganz im Gegenteil. Da gibt es zum Beispiel seit einigen Jahren eine Handvoll Autoren, die könnte man die „cleveren“ nennen. Ihr Stil ist exzellent, der Aufbau ihrer Geschichten klug durchdacht, die Sprache verhalten ironisch oder scharf und bissig. Sie philosophieren, kommentieren, analysieren, sie erfinden und beschreiben; nur Geschichten erzählen, so richtig erzählen, das können sie nicht. Julian Barnes etwa versuchte eine Geschichte der Welt in zehneinhalb Kapiteln, Martin Amis trieb es wieder auf seine London Fields, Peter Ackroyd sah Erstes Licht, wo mancher Leser alle Hoffnung verlor, David Lodge gefällt die Schöne Arbeit in einer Fabrik, und Salman Rushdie würde er doch nur gelesen und nicht bloß zitiert -, Salman Rushdie goß mit seinen Satanischen Versen ein wirklich ätzendes Konzentrat über die Yuppiepolitur von Thatcherengland.

Aber Literatur - ich meine die „richtige“ Literatur, die, die man mit feuerroten Ohren liest, die man nicht einmal auf dem Weg zum Klo aus der Hand legt, deren Text in einem wächst, wenn das Buch längst zu Ende gelesen ist - die wird von anderen geschrieben: von Kazuo Ishiguro zum Beispiel, dem stillen Miniaturisten, der mit The Remains of the Day die Lebensbeichte eines englischen Butlers vorlegte; von James Kelman, dem Sprachjongleur aus Glasgow, der die Leser von A Disaffection für eine Woche in den Kopf eines schottischen Schullehrers zwängt - durchaus keine angenehme Erfahrung, eher a fucking hell -, oder von Jeanette Winterson. Sie schrieb - einen Roman? Ich bin mir nicht sicher, vielleicht ist Sexing the Cherry auch ein langes Gedicht oder ein Märchen oder eine lang vergessene Legende.

Oder Nikolas Shakespeare. In The Vision of Elena Silves schreibt er über Peru; der gerade Neunundzwanzigjährige tut dies, als hätte er das Erzählen erfunden, als säße er im Basar von Bagdad oder Babylon, von Metropolis oder Gotham City und hätte seinen Spaß daran, daß alle Welt die Welt vergißt und sie durch ihn neu entdeckt. Manche Menschen erkennen es daran, daß die Blätter fallen. Andere heizen den Ofen, machen jeden Abend die Lampe ein wenig früher an - und greifen zum Buch.

Bernhard Robben