piwik no script img

Polenmarkt-Boom: 10.000 zwischen Ramsch

■ Tausende von Neugierigen und Geschäftemachern auf dem Polenmarkt / D-Mark bleibt in den Portemonnaies / Sechs Mark für nagelneues Bügeleisen sind zwei zu wenig / Westberliner Trödler muß wegen Gewinneinbußen Zeitungen austragen

Eine alte Frau packt aus ihrer Reisetasche die polnische Zeitung 'Gtos Szczecinski‘, breitet sie vor sich auf dem matschigen Sandboden aus. Auf der blauen Reisetasche ist der vielversprechende Satz „Go to USA“ vom Zahn der Zeit verblichen. Sie will Eier, Schokolade und Kristallglasschüsseln verkaufen.

Sie ist dieses Wochenende nicht alleine aus ihrem Land gekommen, um auf dem Polenmarkt eine schnelle Westmark zu machen. Tausende ihrer Landsleute drängelten sich in ihren Autos schon seit Samstag morgen, drei Uhr, an den Berliner Kontrollstellen und mußten an diesem Tag bis in den Nachmittag hinein Wartezeiten von bis zu zwei Stunden in Kauf nehmen. Manche hatten so viel Handelsware dabei, daß die Polizei sie gar nicht erst reinließ. Aber nicht nur die Grünen an den Grenzstellen haben wieder viel Arbeit. Auch der Kontaktbereichsbeamte muß dieses Wochenende wieder ran. Zwischen Linkstraße und Magnetbahn am Reichspietschufer schreibt er ununterbrochen falsch parkende Autos auf.

Die alte Frau ist mit ihren Eiern erst am gestrigen Sonntag auf dem Markt angekommen. Sie kommt aus Landberg und ist seit Samstag zehn Uhr unterwegs gewesen. Schon während des Auspackens will jemand ihre Eier kaufen. Der West-Berliner winkt aber schnell wieder ab. Drei Mark für zehn Eier ist für ihn außerhalb jeder Diskussion: „Bei Aldi kosten die 1,59.“ Preisdrücken ist angesagt. Und viele polnische Anbieter lassen sich in ihrer Not auch gerne drücken. Längst ist die große Nachfrage nach „made in Poland“ gesättigt. Jemand anderem bietet sie an, Sachen auf Bestellung mitzubringen.

Sie spricht deutsch. Im Gegensatz zu den meisten ihrer unzähligen KonkurrentInnen auf dem Platz. Die können gerade die Zahlen von eins bis zehn, und auch das nicht einmal immer. Im Gedränge von Tausenden Neugierigen und Geschäftemachern bietet ein Türke für ein nagelneues Bügeleisen sechs Mark, muß schließlich sechs seiner zehn Finger zeigen. Sechs Finger waren dem polnischen Verkäufer dann aber doch zu wenig.

Auf dem Polenmarkt scheint das Westgeld sowieso in den Geldbörsen festgeklebt zu sein. Vor allem Berliner halten sich mit dem Ausgeben zurück - und glotzen lieber. Am meisten kaufen Türken und auch viele Polen. Angesichts des Angebots ist dies vielleicht kein Wunder: neben Schinken liegen jetzt Weihnachtskugeln und Winterstiefel für Kleinkinder. Am meisten interessiert das eher kaufunwillige, aber um so schaulustigere Volk aber allenfalls noch der Preis von Zigarettenstangen. „Golden American Filter“ kosten 20 Mark, bleiben aber trotzdem liegen. Manchmal weiß man auch gar nicht, was es dort zu kaufen gibt. Eine Tube namens „Dandy“ enthält nicht Schuhcreme, sondern Rasierschaum.

Gut sortiert geht's auf dem benachbarten (deutschen?) Trödelmarkt zu. Die Ware ist auf Tischen ausgebreitet, und anstelle von Billigwerkzeug warten hier gebrauchte Rechenmaschinen und markenlose Kassettenrecorder auf Abnehmer. Klamotten liegen nicht durcheinander auf der Erde, werden auch nicht von den Händlern an Kleiderbügeln hoch gehalten, sondern warten in Ruhe, sauber geordnet an Kleiderstangen. Hier kostet alles richtig Geld. Für eine alte Schreibtischlampe muß ein junger Student 50 Mark hinblättern - aber hier spricht man auch wieder deutsch. Sicher einer der Gründe, warum ein Berliner Ehepaar „nur hier“ zum Trödeln geht, auf den Polenmarkt „gehen wir nicht“.

Für manchen Trödler ist das Geschäft trotzdem wesentlich schlechter geworden. Ein 55jähriger Händler, der davon lebt, Möbel und Lampen aus Wohnungsauflösungen zu verkloppen, sagt, daß er am Wochenende nur noch 200 bis 300 Mark verdient. Vor Beginn des Polenmarktes sollen es einmal über 1.000 Mark gewesen sein, sagt er. Seit 15 Jahren verkauft er in West-Berlin Einrichtungsramsch. Jetzt muß er öfters auf westdeutschen Flohmärkten verkaufen und sogar Zeitungen austragen, meint er wütend und guckt rüber über den Maschendrahtzaun zu den unwillkommenen Berufskollegen aus dem armen Ostblockland. Aber so ist der Kapitalismus. Jetzt füllen andere seine Marktlücke. Seine alteingesessenen Trödelmarktkollegen haben aber schon eine neue Marktlücke ausgemacht. Sie kaufen Kristallglas nebenan auf dem Polenmarkt und vertickern es auf westdeutschen Flohmärkten. Für den zwei- bis dreifachen Preis natürlich.

Dirk Wildt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen