Schaum, vielleicht Abschaum

■ Eine Randbemerkung zur Buchmesse von Erich Kuby

Im Eröffnungsartikel der Wochenendbeilage der 'Süddeutschen Zeitung‘ mit dem Titel „Gegen die neue Armut im Kopf“ wird der Philosoph Karl Popper zitiert. Er habe sich überlegt, was mit unserer Menschenwelt geschehen würde, wenn die gesamte materielle Zivilisation vernichtet würde, aber alles Geschriebene erhalten bliebe. Der Schaden, meint Popper, wäre vergleichsweise gering, aus unserem festgehaltenen Wissen könne die Welt, wie sie vor der Zerstörung bestanden habe, rasch wieder rekonstruiert werden. Würde aber mit unseren materiellen Einrichtungen auch alles Geschriebene zerstört, so könnte unsere Zivilisation „jahrtausendelang nicht wiedererstehen“, wir hätten bei Null anzufangen.

Nun ist das schon deshalb nicht ganz zutreffend, weil es ja das menschliche Gedächtnis gibt. Ich erinnere mich, in Kriegsgefangenschaft mit einem Musiker das Zelt geteilt zu haben, der Mozart-Streichquartette aus dem Gedächtnis niederschreiben konnte. Ein Porsche-Ingenieur würde bestimmt nicht bei Null anfangen, ein Auto zu konstruieren. Worauf Popper hinaus will, ist, zu behaupten, entwickelte Gesellschaften seien voll und ganz vom gedruckten Wort abhängig.

Vorsicht, Mr. Popper! Ich bin hier auf der Frankfurter Buchmesse. Seitdem für viele, viele Millionen hier Neubauten aus dem Messeboden geschossen sind, ist das Unternehmen sogar in seiner baulichen Ausdehnung nur noch gigantisch zu nennen. Rollbänder müßten eingebaut werden, damit man innerhalb des Geländes nicht Unmengen Zeit verliert, auf dem Weg zu einer Halle, in der Halle zum „Stand“. Was aber nun die von niemand gewogenen zigtausend Tonnen bedruckten Papieres angeht, die hier zusammengekarrt und besucher- und geschäftsfreundlich ausgelegt worden sind, so reicht das Wort „gigantisch“ gar nicht aus.

Das ist also im Kondensat „gedrucktes Wort“. Nun stelle ich mir vor, irgendein Fundi würfe eine kleine Atombombe über der Messe ab, die alles vernichtete, und damit wäre - ich bewege mich weiter ins Utopische - schlechthin nichts Gedrucktes mehr übrig.

Hier unterscheide ich nun, anders als Popper, Gedrucktes von Gedrucktem. Würde alles vernichtet, was wir an naturwissenschaftlichem und technischem Wissen und Können hervorgebracht haben, dann in der Tat wäre nicht von heute auf morgen unsere Zivilisation wiederherstellbar (wobei ich mir freilich eine Verschiebung um Jahrtausende nicht vorstellen will).

Ich weiß nicht, wieviel Prozent von den hier ausgestellten Druckerzeugnissen zu diesem Bereich zu zählen sind, aber mein Eindruck ist: nur sehr wenig. Alles andere, diese wahrhaft irrsinnige Menge von Büchern, Broschüren, Plakaten und so weiter - verschwände sie mit einem Zauberschlag - was wäre dann? Gar nichts wäre! Ein paar Tausend hauptberufliche Kritiker verlören ihre Existenzberechtigung, aber 99,9 Prozent der Menschen führten ihr Leben wie bisher weiter, auch die Schreiber, Verleger, Drucker, Buchhändler. Es gäbe Verzögerungen, aber keinen Untergang.

Mit anderen Worten, die „entwickelten Gesellschaften“ hängen nur von einem kleinen Teil des gedruckten Wortes ab. Ihre Zivilisation bliebe also intakt. Mit noch anderen Worten: Was hier zusammengetragen ist und die Basis eines riesigen Geschäftes darstellt, ist nur der Schaum über der Wirklichkeit, vielleicht nur ihr Abschaum, ist ihre Illumination, auf die ohne weiteres verzichtet werden kann.

Um von Büchern zu reden: Die weitaus meisten sind bereits in einem Jahr nahezu unverkäufliche Makulatur, in zehn Jahren tatsächlich vom Markt verschwunden. Kann jemand dem Wahn anhängen, in 30, 40 Jahren würde noch irgend etwas von Grass oder Böll auf dem Markt sein? Und selbst was Thomas Mann angeht, habe ich da meine Zweifel. Was man hier kilometerlang durchwandern kann, hat mit unserem materiellen Dasein absolut nichts zu tun. (Wenn auch mit dem materiellen Dasein der Produzenten, zu denen ich als Schreiber gehöre. Aber nichts ist unwichtiger, aufs Ganze gesehen.)

Ich bestreite also die Bedeutung von Kultur für unser reales Leben? So ist es! An dieser „Kultur“ nehmen ohnehin nur Bruchteile der Gesellschaft teil, jene, die in der sozialen Struktur dem Schaum am nächsten sind. Auch das gilt nur relativ, denn jene, die uns politisch steuern, diese von demokratischen, mißbrauchten Mechanismen nach oben gespülten „Täter“, haben ohnehin keine aktive Beziehung zur Hochkultur, zum gedruckten Wort, soweit es nicht unmittelbar im Dienst ihrer Machtgewinnung und/oder -erhaltung steht. Das galt schon für Bismarck, erst recht für Adenauer, vom Enkel Kohl zu schweigen. Wer in dieser politischen Managerschicht noch mühsam Verbindung zum Geist aufrechterhält, wird als „Querdenker“ verachtet und kaltgestellt.

So eine Buchmesse ist ein neurotisches Unternehmen, das in seiner Bedeutung lächerlich überschätzt wird.

Von Erich Kuby ist rechtzeitig zur Buchmesse eine Sammlung von Reportagen, Leitartikeln und Arbeitsnotizen aus 'stern‘, 'Spiegel‘ und taz erschienen: Mein ärgerliches Vaterland, Hanser-Verlag, 576 Seiten, 49,80 DM