Wachsweicher Verhandlungsauftakt

Die DDR-Kirche scheut den Konflikt mit der SED  ■ K O M M E N T A R E

Die evangelische Kirche der DDR befindet sich mit dem gesellschaftlichen Aufbruch der letzten Wochen in einer unverhofften Situation. Nachdem sich kirchliche Publikationen seit 1988 immer wieder mit staatlichen Zensurmaßnahmen herumschlagen mußten, nachdem die Eisenacher Synode vor wenigen Wochen noch verdächtig wurde, sie wolle in der DDR den Kapitalismus restaurieren, signalisiert die SED plötzlich wieder Gesprächsbereitschaft. - Nicht aus neuentdecktem Wohlwollen, sondern weil die SED derzeit keine Alternative sieht, dem überall aufbrechenden Unmut Herr zu werden. Die Kirche ist über Nacht zu dem Gesprächspartner der Partei avanciert. Sie verfügt - nicht zuletzt aufgrund der Verquickung von Kirchenbasis und Opposition - über gesellschaftliche Autorität; und sie garantiert im Kalkül der Partei, daß der unvermeidliche Veränderungsprozeß in Form und Reichweite berechenbar bleibt.

Zumindest die staatlichen Erwartungen in puncto Kalkulierbarkeit hat die Kirche bei der ersten Gesprächsrunde in Ost-Berlin nicht enttäuscht. Diejenigen, die auch nach den jüngsten Reformsignalen zu äußerster Skepsis mahnen, müssen sich nach dem Treffen des Hauptstadtbürgermeisters Krack mit der Kirchenleitung bestätigt fühlen. Von weitreichenden Übereinstimmungen ist viel, von Forderungen und Dissens nirgends die Rede. Auf seiten der SED sieht Konsistorialpräsident Stolpe nach dem Gespräch „die Entschlossenheit, zu ersten, schnellen, bürgerwirksamen Schritten“. Muß eigentlich noch verhandelt werden? Der harmonische Dialogauftakt jedenfalls erscheint eher als Affront derjenigen, die grundsätzliche Änderungen verlangen und deren Engagement der letzten Wochen erst ermöglichte, daß die Kirche wieder am Verhandlungstisch der SED Platz nehmen darf.

Wenn die Kirche an ihrer wachsweichen Verhandlungsführung festhält, wird die Rechnung des Staates aufgehen. Befriedungsstrategie - Zeit gewinnen mit Gesprächen, die den Schein der Dialogbereitschaft wahren, ansonsten aber der Partei nicht mehr abverlangen als ein paar reformerisch eingefärbte Bekenntnisse, wie sie seit Tagen auch in den offiziellen Medien die devoten Ergebenheitsadressen ans System zu ersetzen beginnen. Indem die Kirche mit Verweis auf den offiziellen Dialog Unmut und Demonstrationsbereitschaft moderiert, könnte sie leicht zum Erfüllungsgehilfen derjenigen Parteiströmung werden, die nach wie vor auf Stagnation setzt und deren vorrangiges Ziel es ist, der Bewegung der letzten Wochen die Spitze zu brechen.

Die Kirche könnte sich am Ende verkalkulieren, wenn sie das gesellschaftliche Verhandlungsmandat in erster Linie für die Verbesserung ihrer eigenen prekären Rolle im sozialistischen Staat zu nutzen versucht. Denn die Situation der „Kirche im Sozialismus“ wird - wie die Vergangenheit zeigt - weniger von bilateralen Vereinbarungen als von der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung bestimmt. Insofern wird die Kirche auch ihren eigenen Interessen dienen, wenn sie jetzt auf echte Reformen drängt und die Forderung der außerkirchlichen Opposition nach Teilnahme am Reformdialog durchsetzt. „Bürgerwirksame Schritte“, die an der Objektrolle der BürgerInnen gegenüber staatlichen Entscheidungen nicht rühren, reichen nicht mehr.

Matthias Geis