„Ich wußte, ich komme früher oder später raus“

Walter Sisulu kehrt am frühen Sonntagmorgen nach 26 Jahren Knast in sein Haus in Soweto zurück / „Es hat sich hier nicht viel geändert“ / Freunde und Anhänger begeistert und gerührt / „Das ist, als ob Südafrika plötzlich ein anderes Land ist“  ■  Aus Johannesburg Hans Brandt

Sonntag morgen, 7.15 Uhr. Mit 120 Stundenkilometer rasen wir die Hauptstraße von Soweto entlang. Plötzlich springt ein schwarzer Verkehrspolizist auf die Straße und zwingt uns zu halten. Das kann ein paar Hundert Rand kosten, denke ich. Ein Kollege steigt aus und spricht mit dem Polizisten. „Walter Sisulu ist gerade freigelassen worden“, sagt er. „Wir müssen so schnell wie möglich zu seinem Haus.“ „Sisulu ist frei? Wirklich?“ fragt der Polizist. Dann strahlt er und läßt uns fahren.

Der Polizist ist nicht der einzige, für den der Name „Sisulu“ etwas Besonderes bedeutet. Vor dem kleinen Haus der Sisulus, Nummer 7372 Orlando West, versteckt hinter einer Metzgerei, drängen sich etwa 200 singende Jugendliche und Dutzende von Journalisten. Noch mehr Menschen kommen die Seitenstraßen hochgeeilt. „Ist er da?“ fragt mich ein Schwarzer im Vorbeilaufen. Als ich zustimmend nickte, reißt er die Faust in die Luft. Auch vorbeifahrende Autos hupen übermütig, und die Fahrer stecken ihre Faust aus dem Fenster.

Das Haus wird von jungen Aktivisten, den „Comrades“ des oppositionellen „Soweto Schülerkongresses“, bewacht. Ein ständiger Strom von Anti-Apartheid-Prominenz wird hineingelassen, um dem Zurückgekehrten zu gratulieren. Die „Comrades“ im Hinterhof machen sich inzwischen die Hände blutig - nach afrikanischer Tradition wird zur Feier des Tages ein Schaf geschlachtet. Eine alte Frau, gekleidet in den ANC-Farben Schwarz, Grün und Gold, ist in der Nacht die 600 Kilometer aus der Hafenstadt Durban hergefahren, um Sisulu zu sehen. „Die Freilassung unserer Führer ist ein Sieg für das gesamte Südafrika“, sagt sie. „Es fühlt sich an, als ob Südafrika heute ein anderes Land ist.“ Seit ihrer Kindheit kennt sie den ANC, seit Jahrzehnten wartet sie auf die Abschaffung der Apartheid. „Ich hoffe, daß Sisulu uns in die Freiheit führen wird.“

Sisulu und fünf Mitgefangene, Ahmed Kathrada, Elias Motsoaledi, Andrew Mlangeni, Wilton Mkwayi und Jafta Masemola, waren schon am Freitag aus Kapstadt ins Gefängnis in Johannesburg gebracht worden. Seit Freitag hielten Journalisten rund um die Uhr vor seinem Haus Wache. Um 5.30 Uhr am Sonntag morgen war es dann so weit. Begleitet von Gefängnisbeamten wurde der frühere Generalsekretär des ANC im Morgengrauen nach Hause gebracht.

Ganz besonders erfreut über seine Rückkehr war seine Frau Albertina. Immer wieder umarmte und küßte die Präsidentin des Oppositionsbündnisses „Vereinigte Demokratische Front“ (UDF) ihren Mann, den sie seit 26 Jahren nur alle paar Wochen im Gefängnis besuchen konnte. Albertina Sisulu war einen großen Teil dieser Zeit selbst verbannt. Am Freitag wurde überraschend ihre jüngste Verbannung (seit 1988) aufgehoben, so daß sie erstmals wieder mit der Presse sprechen und sich über Johannesburg hinaus frei bewegen durfte.

Ihr ältester Sohn Zwelakhe hat allerdings nicht dasselbe Glück. Der Chefredakteur der oppositionellen Wochenzeitung 'New Nation‘ darf nicht mit der Presse nicht sprechen, darf nicht mit mehr als zehn Menschen gleichzeitig in einem Raum sein, muß sich zweimal täglich bei der Polizei melden und kann Johannesburg nicht verlassen. Dennoch ist er zur Begrüßung seines Vaters gekommen. Er konferiert mit Murphy Morobe, dem amtierenden UDF-Pressesprecher, und mit dem Generalsekretär der Bergarbeitergewerkschaft NUM, Cyril Ramaphosa. Beide sind Mitglieder des eigens für die Freilassungen gebildeten Empfangskomitees.

Nach stundenlangem Warten und nachdem sich die Presse endlich beruhigt hat, kommt Sisulu zu einem Fototermin vor das Haus. „Viva Sisulu, Viva!“ rufen die versammelten Zuschauer. Der 77jährige hat weißes Haar, aber er geht aufrecht. „Die Freude dieser Menschen macht mich sehr glücklich“, sagt er, nachdem er hier und da eine Hand geschüttelt hat.

Sein erster Eindruck von Soweto ist allerdings, daß sich nichts geändert hat. „Das Township ist immer noch so wie früher, dieselben alten Häuser.“ Über seine langen Jahre der Haft will er nicht reden. Er sei bereit gewesen, im Gefängnis zu sterben. „Aber ich habe die Hoffnung nicht aufgeben können, denn der Druck der Bevölkerung außerhalb des Gefängnisses war zu groß. Ich wußte, daß ich früher oder später frei sein würde.“

Ein entscheidender ANC-Führer bliebt allerdings hinter Gittern - Nelson Mandela. Er war vorab von der Regierung über die bevorstehende Freilassung seiner Kollegen informiert worden. Und er selbst hat offenbar noch nicht die Absicht, freigelassen zu werden. Tatsächlich ist es inzwischen so, daß die südafrikanische Regierung diese Entscheidung Mandela überlassen muß. Denn seine Freilassung kann nur im Umfeld von tatsächlich anlaufenden Verhandlungen stattfinden - und so weit ist es noch lange nicht. Was allerdings gestern vor Sisulus Haus geschah, war eine kleiner Vorgeschmack der Wirkung, die diese Führer auf die schwarze Bevölkerung haben.