SCHWARZE MILCHSTRASSE

■ Eine Wand-Trommel-Zeichnung in der Galerie Ermer

Der Holländer Toine Horvers sucht den Ausgleich. Er definiert einen Mittelwert, den er in meist 24stündiger Arbeit umkreist und der allerdings in der Abweichung erst aufscheint. Auf der „dokumenta 8“ in Kassel 1987 besetzte er ein kleines Tempelchen im Park hinter der Neuen Galerie, nahe der Autobahn. Das Tempelchen ist rund und hat acht gleichgroße Öffnungen durch die man das Innere betreten kann. In die acht Innenwandnischen installierte Horvers Mikrophone und LED-Anzeigen. Die Besucher sollten singen, in gleichmäßigen Tönen, leise, wenn die Autobahn laut war, laut, wenn der Verkehr nachließ, eine indirekte Kommunikation des zufälligen Chors mit sich selbst, mit dem Lärm der Straße und der Ruhe des Parks über einen willkürlich festgelegten Wert, eine Übung in Freiheit und Anpassung also. 24 Stunden lang sollten sieben LED-Lämpchen glühen, nicht mehr und nicht weniger.

In der Galerie Ermer, auf halber Höhe der Ausstellungswand, hat Horvers jetzt einen kaum sichtbaren Bleistiftstrich gezogen und darüber DIN-A3-Kohlepapier befestigt, immer so, daß die Mittellinie zumindest berührt wurde. Auf jedes Blatt hat er mit Schlagzeugstöcken zehn Minuten lang getrommelt, um es dann wieder abzunehmen und ein neues zu befestigen. 120 mal hat er die Prozedur wiederholt, insgesamt 24 Stunden lang, mit zehn Minuten Pause pro Stunde.

Entstanden ist so eine Art schwarze Milchstraße auf weißem Grund, die die Mittellinie mal massiv überdeckt, mal in weißen Löchern durchscheinen läßt, und sich nach oben und unten verliert oder verdichtet, um abrupt - dort wo das Kohlepapier zu Ende war - abzubrechen.

Ein wolkiges Gebilde, in sich völlig unregelmäßig, asymmetrisch und bewegt - grobe Partikel, die sich zu Klumpen ballen, und feine, die herabrieseln - aber nicht ungenau, da es stets auf diese zwar mehr gedachte als sichtbare, aber konstitutive Horizontlinie bezogen ist. Wie eine Wolkenformation läßt es eine Menge Assoziationen zu: Tritt man zurück, so scheint sich im herabgedämpften Licht der Galerie, das die Körnigkeit der Wand verschwinden läßt, der schwarze Nebel loszulösen und vorm Auge zu tanzen wie Flecken, wenn man in die Sonne geguckt hat. Tritt man heran, konkretisieren sich die Partikel zu Spuren einer Gewalteinwirkung, Blutspuren nach einer Erschießung - die Mittellinie liegt auf Kopfhöhe. Tritt man wieder zurück, zeichnen sich in der Formation Figuren ab, links ein Sprinter, rechts ein Hund.

Thierry Chervel

„Clouds 3“, eine Wand-Trommelzeichnung von Toine Horvers in der Galerie Ermer, Knesebeckstr 97, 1/12