Eine Reise nach Albanien

■ Lore Kleinert berichtet anläßlich der BRD-Kulturwoche von einem veränderten Land

Lore Kleinert

Neben mir im Flugzeug der Handelsexperte der Salzgitter -Werke, der wegen eines Auftrags für Nickelveredelung nach Albanien fliegt. Neunmal war er dort, es sei „das schlimmste Land auf unserem Globus“. Warum? Weil sie dort die Maschinen, die wir ihnen hinstellen, nicht pflegen, sagt er, weil es ihnen egal ist, ob sie arbeiten, denn auch für mehr Geld gibt es nicht mehr zu kaufen. Überall sei er schon gewesen, aber eine solche Gleichgültigkeit hat er noch nicht erlebt.

Tage später: Monteur Frank aus der DDR, lärmender Prototyp auch des heimischen Spießers, irritiert das Land ebenfalls. Doch, die Albaner seien gastfreundlich, aber nur aus Hinterhältigkeit. Fleißig seien sie, aber verbissen, und vor allem käme er an keine Frau heran. Gesamtdeutsche Begegnungen der zufälligen Art im fremden Land. Joseph Roth, Romancier, Journalist, Reisender, geboren in Ostgalizien, schrieb Ende der zwanziger Jahre, ganz Albanien sei wie ein abgeschlossener Hof, auf dem „die Exotik laste doppelt grausam als selbstgewählte Pein“, von „natürlichen Gefängnismauern eingefaßt“. Als er nach Albanien reiste, war noch die Blutrache als kompliziertes, jahrhundertealtes Regelsystem wirksam, zumindest im Norden Ersatz für jedes Gesetz. Die Terrassen mit Wein, Obst, Olivenbäumen, von „der Jugend“ im 15jährigen Kampf gegen die Erosion angelegt, gab es damals noch nicht. Sie geben der Landschaft dieses ersten atheistischen Staates der Welt heute ein biblisches Aussehen: Schaf- und Truthahnherden, zweirädrige Ochsenkarren, Esel und Frauen mit Kopftüchern auf den Feldern. Selbst die zahllosen Bunker, die wie kleine Pilze das ganze Land überziehen, lassen eher an Spielzeug denken als an Krieg. Die Berge: weit weniger Mauern als gläsern -bläulich schimmernde, unwirkliche Kulissen, vor denen ein Volk seine Unabhängigkeit inszeniert, seit dem Widerstand illyrischer Stämme gegen die Supermacht Rom in immer wieder scheiterden Anläufen.

Ein Volk? Sein männlicher Teil definiert und beschwört es noch immer in der Sprache der Dichter und der Komintern der 20 Jahre. Parteichef Ramiz Alia warnt vor den neuen Zeiten, die „imperialistisch-revisionistische Einkreisung“ sei permanent; das „kreative Können der Partei und die kommunistische Militanz müssen heute mehr denn je entfaltet werden“. Albaniens berühmtester Schriftsteller, Ismael Kadare, erregt sich im Gespräch über Jugoslawiens Kosovo -Politik und ist auf die Glasnost-Politik der Sowjetunion nicht neugierig. Ein kleines, bedrohtes Land braucht die Liebe des Schriftstellers mehr als andere, sagt er. Warum in der Bundesrepublik nicht alle begeistert für die Wiedervereinigung kämpfen, versteht hier niemand. Ohne Vergangenheit gäbe es keine Zukunft, und beides sei immer das einige Volk - in Albanien ist die Geschichte mächtiger als andernorts. Wir haben türkisch osmanische Zentralgewalt überwunden, wir sind die Sowjetunion losgeworden, die Jugoslawen, die Chinesen - wir sind gelassen geworden, sagt Ymer Minshosi, Chefredakteur der Zeitschrift 'Neues Albanien‘.

Aus dieser Tradition, in die sich unsere Gesprächspartner hüllen wie in einen farbenprächtigen, zeremoniellen Mantel, haben die albanischen Kommunisten einige störende Elemente entfernt: die Blutrache, die Religion. Die Bauern der Produktionsgenossenschaften sind stolz auf die Überwindung der Monokultur, auf eigene Häuser Urlaub (15 Tage im Jahr). Im ärmsten Land Europas ist die durchschnittliche Lebenserwartung von rund 38 (1944) auf 72 Jahre gestiegen, und auch darauf ist man stolz. Nationales Selbstbewußtsein ist die Basis, von der aus die Verschuldung ans westliche Ausland ebenso abgelehnt wird wie Rumäniens faschistische Umsiedlungspolitik oder der Umgang mit dem Nationalitätenproblem in der Sowjetunion. Noch hält er spürbar alle und alles zusammen.

Unser Hotel in Tirana: ein Luxushotel, Gänge breit wie Boulevards, Kellnerheere, Sonnenterrasse. Hier residiert der deutsche Botschafter, ein Freund von Franz Josef Strauß, hier treffen sich seine Kollegen. Das Hotel ist befreites Gebiet für jene Fremden, die alles übrige ablehnen, aber auch allgemeiner Treffpunkt für einen Mokka oder ein üppiges Essen. Ein Schaufenster, und wir selbst ein Teil der Auslage - wir werden es nicht leicht los, das Hotel. Dennoch, die Kulturwoche der Bundesrepublik ist keine Angelegenheit von Funktionären. Vor den Konzertsälen stehen Schlangen, um die Schachcomputer und Paul A. Webers Karikaturen auf der Schachausstellung drängen sich junge und alte Männer. Man bewundert die Fotografien des 81 Jahre alten Fotografen Erich Andres aus Hamburg, der 1931 durch das Land reiste und noch heute von der Gastfreundschaft schwärmt. Mit den Büchern aus der Bundesrepublik wird handgreiflicher Kontakt aufgenommen - was übrig bleibt, soll in die Nationalbibliothek. Als der Troß der Diplomaten und Politiker sich verläuft, sammeln sich Studenten vor Horst Janssens Radierungen und Zeichnungen. Ganz dicht gehen sie heran, ziehen die ihnen unvertrauten Linien andächtig mit den Fingern nach. Als das Figurentheater die Kinder zum Spiel mit den lebensgroßen Stoffpuppen einläd, sind die Betreuer erst entsetzt, dann allmählich infiziert von dieser unbekannten Art des Theaterspiels; wir hören, die albanischen Leiter von Kindertheatern wollen es aufgreifen.

Die Begeisterung ist groß über bundesdeutsche Kultur, man möchte mehr kennenlernen, Kontakte ausbauen. Unsere Gesprächspartner preisen deutschen Fleiß und GoetheSchillerHeineBöll. Was wissen sie von unseren Schattenseiten? Drogenprobleme, Gewalt, Rechtsradikalismus kennen sie, von weitem und sehr allgemein. Wollen sie auch die Kunst kennenlernen, die den Finger in die Wunden legt? Die Antwort ist eindeutig: Kultur ist zunächst einmal das gelungene Produkt, das Schönste und Beste, und die Menschen müssen es verstehen können. Bei der Frage, wer das für sie entscheidet, stößt die sonst offene und herzliche Diskussion an ihre Grenze. Kultur ist hier nicht Konsum, Zerstreuung oder Auseinandersetzung, sondern zuerst und vor allem Bildungsprogramm, und das nicht nur auf den vielen Tafeln mit aufmunternden Parolen des großen Enver. Jede Produktionsgenossenschaft, jeder Betrieb hat eine Kulturgruppe, mit Stolz wird auf die Kinos und Theater, die Volksmusik, die Kunsthochschule verwiesen, auf die Maler und Graphiker, denen inzwischen sogar Einzelausstellungen möglich seien.

Parteichef Ramiz Alia weiß offenbar, daß das italienische Fernsehen, nach 21 Uhr überall in den albanischen Wohnzimmern zu empfangen, einen Wettlauf gegen die Zeit eingeläutet hat: Er fordert mehr Kulturaktivitäten und gesteht der Jugend das Recht auf höhere Ansprüche zu. Das sei neu, sagt man uns. Jeder Schritt nach Westen, durch Kontakte, Reisen, Tourismus, Medien durchlöchert das eiserne Korsett der rigi den, selbstgezimmerten Moral, auf die sich auch unsere Gesprächspartner häufig zurückziehen. Was wird aus den wachsenden Wünschen nach mehr Wohlstand und größeren individuellen Gestaltungsmöglichkeiten? Was wird aus den Frauen, die früh heiraten, sehr viele Kinder haben, hart arbeiten und sich, so die Schriftstellerin Elena Kadare, obendrein des osmanisch-patriarchalischen Erbes erwehren müssen?

In den Städten, hören wir, sind die Kinderzahlen längst drastisch zurückgegangen, auch ohne offiziell erlaubte Verhütungsmittel, und wir sehen junge Frauen in engen Hosen statt braven Kittelschürzen, die Haare modisch gelockt. Die internationale Sprache der Popmusik verstehen sie längst. Das Ideal der „neuen Menschen“, diszipliniert, genügsam, kameradschaftlich, ist männlich. Warum es sich bislang so hartnäckig allen Realisierungsversuchen verweigert hat - in Tirana z.B. sind die unteren Etagenfenster meist vergittert, gegen Einbrüche, wie peinlich berührt eingestanden wird -, Fragen wie diese werden nicht mit uns diskutiert, wohl aber, erfahren wir, untereinander, auf den samstäglichen Festen und Gelagen, zu denen man sich trifft.

Die Beobachtung Joseph Roths, das Leben sein „enterotisiert“, die Liebe „degradiert zur häuslichen Tugend“ und das Land „schön, unglücklich und langweilig“, in Reiseberichten der fünfziger und sechziger Jahre noch bestätigt, trifft nicht mehr zu. Die Absage an den Individualverkehr ist angesichts unseres Verkehrskollaps nicht mehr nur absurd und ärmlich, das Beharren auf ökonomischer Unabhängigkeit angesichts der Schulden aller Länder der Dritten Welt nicht mehr nur lächerlich. Albaniens eigensinniger Nationalstolz wirkt unverkrampfter, da eingelöst, als alle neu aufgebrochenen Nationalitätenkämpfe der letzten Jahre. Das löst zwar keines der Probleme, zwingt aber zu Respekt. Und die Erotik? Selten sah ich erotischere Engel als auf den berühmten Ikonen des albanischen Malers Onufri aus dem 16.Jahrhundert: schönäugig, in phantastisch -brennendes Rot getaucht, fliegen sie nicht. Obwohl mit prächtigen Schwingen versehen, gehen und stehen sie auf der Erde, auf kräftigen Menschenfüßen.