Das Vorbild mit den falschen Füßen

■ Der Turner Andreas Aguilar ist zwar ein Außenseiter, aber doch der Beste der bundesdeutschen Riege bei der Weltmeisterschaft / Der ungeliebte neue Pflichtmodus wird wohl wieder abgeschafft

Stuttgart (taz) - Als sich wenige Stunden vor der Weltmeisterschaft die bundesdeutsche Riege einer Art Pressekonferenz mit rund 100 SchülerInnen stellte, wurde Cheftrainer Mauno Nissinen nach dem möglichen Abschneiden seines Teams befragt. Vor einem Jahr, bei den Olympischen Spielen in Seoul, war die Mannschaft auf den 12. Platz abgesackt. „Wir wurden Zwölfter“, sagte der Finne in fast akzentfreiem Deutsch, „aber es waren ja auch nur zwölf Mannschaften.“ Die Jungreporter lachten, wagten aber kaum, die pessimistischen Prophezeiungen der hiesigen Presselandschaft aufzugreifen.

Schwarzmalerei wird auch nicht mehr möglich sein, da die Turner - obwohl nicht nur zwölf, sondern gleich 41 (Männer -)Teams am Start sind - einen guten 9. Platz nach den Pflichtdurchgängen belegen. Nissinen freute sich, am meisten aber Andreas Aguilar, der als Mannschaftsbester die Stuttgarter Schleyer-Halle verließ.

Aguilar ist der medaillenträchtigste Turner, der einzige überhaupt, und er wäre doch fast nicht in die Mannschaft gekommen. Diese allein sollte zählen, nicht, daß Aguilar schon zweimal EM-Bronze an den Ringen gewonnen hat. Aguilar, der in Barcelona geborene und auf den Philippinen aufgewachsene Sohn eines Kunstmalers, jetzt 27 Jahre alt und Grafik-Disign-Student, ist fast schon ein wenig der Außenseiter im Team: Er ist der Älteste, er ist verheiratet, er trainiert nicht ständig im Leistungszentrum Frankfurt, sondern zu Hause in Hannover, er ist verletzungsanfällig („Meine Füße sind nicht fürs Turnen geschaffen“) und er ist keiner, der übertrainiert ist.

Ein Bewegungstalent, das viel durch Beobachtung gelernt hat, mit viel Freude in die Turnhalle geht, ein sportliches Vorbild, locker und gelassen, dennoch hochkonzentriert an den Geräten. Medaillen? Die sind ihm relativ egal; der persönliche Erfolg zählt, ob das in der Trainingshalle passiert oder im Wettkampf (nachdem er die Tageshöchstnote von 9,8 Punkten an den Ringen erhalten hat, ist eine Medaille an diesem Gerät greifbar).

Heim- und Bundestrainer Uli Ott würde seinen „Agi“, der sich nach der WM vom Leistungssport wahrscheinlich zurückziehen wird, gerne noch im Team halten. Als Stütze, als den mit den meisten Erfahrungen, der Ruhe auf die anderen überträgt.

Doch was die Mannschaft als solche noch leisten kann, wird sich erst am heutigen, dem Kür-Abend zeigen. Vorher (in der Pflicht) gab es praktisch keine Mannschaft, was nichts mit der Leistung zu tun hatte: Die Turner traten bunt durcheinandergewürfelt an. Die Turnfunktionäre versprachen sich davon mehr Attraktivität, wenn - den ganzen Tag lang in jedem Durchgang ein Teil der Weltklasse am Start ist. Der Versuch schlug fehl: Es sind genauso wenig ZuschauerInnen da wie zuvor bei anderen Meisterschaften, weder bei Trainern noch Aktiven findet die neue Lösung Zuspruch. Nissinen hat wie viele eine bessere und weitgehendere Idee: die Pflicht ganz abzuschaffen.

So wird dieses System wohl einmalig bleiben, bei der nächsten WM werden die Mannschaften bestimmt wieder geschlossen antreten können, besser: dürfen.

Thomas Schreyer