Polen droht energiepolitischer Kollaps im Winter

Wenn es auch in diesem Winter wieder kälter als minus 15 Grad wird, stehen massenhafte Stromabschaltungen auf der Tagesordnung / Kraftwerke sind pleite, weil die Kunden die Rechnungen nicht bezahlen wollen / Zahlungsverweigerungen schüren die Inflation / Schwierigkeiten mit Energieimport aus der Sowjetunion  ■  Aus Warschau Klaus Bachmann

Am 4. Oktober erhielt die Tarchominer Arzneifabrik „Polfa“ ein Ultimatum der Warschauer Kraftwerksverwaltung: Ab 9. Oktober um 7 Uhr morgens werde Polfa der Strom abgedreht. Die Nachricht ging wie ein Lauffeuer durch die polnische Presse - Polfa ist Polens Hauptproduzent von Antibiotika, wovon es in den Warschauer Apotheken ohnehin so wenig gibt, daß Kranke oft tagelang die Stadt danach absuchen. Inzwischen ist der 9. Oktober vergangen, und Penicillin wird weiterproduziert. Das Finanzministerium ist eingesprungen.

Der Vorfall ist typisch für die Lage, in die Polens Inflation die Wirtschaft inzwischen gebracht hat. Was in der Debatte um Polfa unterging, ist nämlich die Tatsache, daß die Arzneifabrik von den Kraftwerken auf dem Trockenen sitzen gelassen werden sollte, weil sie ihre Stromrechnung nicht bezahlt hatte. Der Grund für die Zahlungsverweigerung Polfas ist, daß selbst Konventionalstrafen bei der derzeitigen Inflationsrate für die Kunden billiger kommen als Bankkredite. Viele Betriebe benutzen daher ausstehende Verbindlichkeiten als billige Kredite und zahlen ganz einfach nicht mehr. Laut Finanzminister Balcerowicz ein Phänomen, das inzwischen das Ausmaß von Hunderten von Milliarden Zloty erreicht hat: „Die Betriebe kreditieren sich gegenseitig.“

Ungewollter Effekt des Ganzen: noch mehr Inflation, denn die nichtbezahlten Schulden werden anderweitig verwertet und vermehren damit die im Umlauf befindliche Geldmenge. Auch das Finanzministerium leidet darunter, so sind etwa Polens staatliche Alkoholproduzenten dem Finanzamt ca. 200 Milliarden Zloty (500 Millionen DM) schuldig. Da es sich bei den Schuldnern ausschließlich um Staatsbetriebe handelt, droht ihnen auch kein Konkursverfahren wegen Zahlungsunfähigkeit - zum einen, weil Polens Konkursrecht Staatsbetrieben gegenüber äußerst wohlwollend ist; zum anderen, weil die Betriebe ja gar nicht zahlungsunfähig, sondern nur zahlungsunwillig sind. Ihre Zahl nimmt noch dazu ständig zu: Auf 4,5 Milliarden Zloty sind beispielsweise die Schulden der Industrie gegenüber der Energiewirtschaft schon angestiegen. Unter den säumigen Zahlern sind so bekannte Betriebe wie die Hütte „Warszawa“, die Autofabrik FSO und die Warschauer Stadtverwaltung. Weshalb der Direktor der Warschauer Energieversorgung im Fernsehen auch schon ankündigte, künftig allen Schuldnern den Strom abzudrehen.

Und dies in einer Situation, in der es Polens Bevölkerung ohnehin nicht allzu warm ums Herz werden kann. Soeben teilte nämlich die „Energiegemeinschaft“, Dachverband der Kraftwerke Polens, mit, in diesem Jahr werde das Kohledefizit in der Energieerzeugung 1,5 Millionen Tonnen Kohle betragen. Grund dafür ist die Tatsache, daß samstags nur noch auf freiwilliger Basis in den Gruben gefördert wird. Die Änderung im Tarifsystem, wonach Samstagsarbeit die Ausnahme darstellen soll, war von Solidarnosc am runden Tisch durchgesetzt worden. Hinzu kommt, daß in diesem Herbst drei zusätzliche arbeitsfreie Tage anfallen.

Außerdem wird die UdSSR auch nicht die vorgesehenen 800 bis 1.000 Megawatt liefern, nicht nur weil die Sowjetunion selbst Schwierigkeiten mit der Kohleförderung hat, sondern auch, weil im RGW-Clearing solche Lieferungen gegeneinander verrechnet werden, und Polen mit der Lieferung von Konsumartikeln für den sowjetischen Markt im Rückstand ist. Schon jetzt importiert Polen Spitzenlaststrom in den Abendstunden aus der CSSR. Einziger Trost für Polens Bevölkerung: Zuerst soll es den Betrieben an den Kragen gehen, wenn der Strom knapp wird. Doch schon jetzt werden in den Abendstunden gelegentlich einstündige Stromausfälle in manchen Warschauer Stadtteilen gemeldet.

Geradezu beruhigend nimmt sich da eine Prognose des Zentralen Planungsamtes aus, die zu dem Schluß kommt, es bestünde kein Anlaß zu besonderer Furcht für das Funktionieren der Wirtschaft und die Lebensbedingungen der Bevölkerung im Winter. Das allerdings, so geht aus der Studie hervor, gelte nur für „einen milden Winter“. Für den Fall aber, daß die Temperaturen auf unter minus 15 Grad Celsius fallen sollten, kann das Energiedefizit auf 2.500 Megawatt steigen. Folge: „massenhafte Stromabschaltungen“. In Polen sind wochenlange Kälteperioden von minus 30 Grad keine Seltenheit. Für 17 Millionen Dollar sollten deshalb Notvorräte an Heizöl im Umfang von 200.000 Tonnen angelegt werden, schlägt Minister Osiatynski, Chef des Planungsamtes, vor. Was sich in den weiträumigen und gutgeheizten Räumen der Zentralbehörden mitunter wie eine akademische Vorlesung anhört, hat einen todernsten Hintergrund: Jeder harte Winter fordert in Polen gewöhnlich Todesopfer, vor allem unter alten Leuten, die in ihren Wohnungen an Unterernährung und Kälte sterben, aber auch jüngere Hausbewohner, die versuchen, Ausfälle der Gas- oder Zentralheizung mit kleinen Elektroheizgeräten auszugleichen. Da diese jedoch oft von niedrigem Sicherheitsstandard sind und noch dazu häufig unsachgemäß benutzt werden, fallen ihnen jeden Winter einige Wohnblöcke zum Opfer, die infolge von Kurzschlüssen oder Schwelbränden niederbrennen.