Brandt voll Hoffnung in Moskau

Der SPD-Ehrenvorsitzende fordert die Einrichtung einer europäischen Sicherheitsbehörde - möglicherweise in Berlin / Heute Gespräch mit Gorbatschow  ■  Aus Moskau Klaus Hartung

Schon vor dem Zusammentreffen Willy Brandts mit Michail Gorbatschow in Moskau mehren sich die Anzeichen, daß am Ende von Brandts Besuch mehr stehen dürfte als lediglich einige pragmatische Arbeitsergebnisse. Brandt, dem gestern von der Moskauer Lomonossow-Universität die Ehrendoktorwürde verliehen wurde, forderte in seiner Rede, angesichts der tiefgreifenden Veränderungen in West- und Osteuropa müßten zur Absicherung des Abrüstungsprozesses neue Institutionen entwickelt werden, deren Sitz Berlin sein könnte: „Ich gehe davon aus, daß wir einer Art europäischer Sicherheitsbehörde bedürften - weshalb eigentlich nicht in Berlin, wo die Konfrontation eine besondere Zuspitzung und einen besonders häßlichen Niederschlag erfuhr?“

Ein Novum bei dem Besuch ist die ziemlich offene Kontaktaufnahme der SPD-Delegation zu Vertretern der sowjetischen Sozialdemokratie. Am Sonntag trafen sich litauische Sozialdemokraten mit Hans Koschnik. Gestern abend fand ein Gespräch mit russischen Sozialdemokratem statt.

Von dem heutigen Gespräch mit Gorbatschow erwarten Journalisten neben Anregungen zum Ost-West-Krisenmanagement auch weitergehende deutschlandpolitische Erklärungen.

In seiner Rede antwortete Brandt auf Gorbatschows Plädoyer für ein „globales Denken“. Demnach gäbe es nicht nur einen weltweiten Siegeslauf des „neuen Denken“, vielmehr sei auch die Entwicklung neuer Institutionen geboten, die sich mit Abrüstung, ökologischer Kontrolle und den gewaltigen ökonomischen Widersprüchen der Welt befassen sollten. Er warnte davor, leichtfertig zu glauben, das „Thema Frieden habe sich erledigt, es könne abgehakt werden“.

Im Zusammenhang mit der fortschreitenden Integration Westeuropa und dem osteuropäischen Reformprozeß warnte Brandt davor, das Bild vom „gemeinsamen europäischen Haus zu sehr zu strapazieren“. Noch bedürfe es einer inhaltlichen Zielbestimmung und neuartiger Wege wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Fortsetzung auf Seite 2

Europa sei nicht nur im militärischen Bereich eine „Risikogesellschaft“, sondern auch in ökologischen Problemen, wie „Tschernobyl“ gezeigt habe. Der Reformprozeß verlange eine aufgeschlossene und solide Partnerschaft. Ließe sich das Wohlstandsgefälle nicht beseitigen und würden nicht alle Bürger Mitspracherecht erhalten, „dann - so ist zu befürchten - werden wir Wanderungswellen erleben, die alles in den Schatten stellen, was wir schon erfahren haben“.

Brandt betonte ausdrücklich: „Ich bin nicht hierher gekommen, um mich über die deutsche Frage auszuweinen.“ Von der europäischen Entwicklung losgelöste Antworten gäbe es jedoch nicht, aber „das Recht auf Selbstbestimmung mün

diger Bürger und auf nationalen Zusammenhalt muß sich hiermit vereinbaren lassen“. Im Gespräch äußerte Brandt seine Zuversicht, dafür gäbe es mittlerweile auch einen Spielraum in Moskau. In seiner Ostberliner Rede hätte sich Gorbatschow vorletzte Woche aufschlußreich zur Wiedervereinigung geäußert, wonach die Sowjetunion die Teilung Deutschland nicht betrieben habe. Nur eine Wiederverienigung in den Grenzen von 1937 habe er ausgeschlossen. Diese Angst könne man der Sowjetunion aber nehmen. Mit sichtlicher Bewegung schilderte der Ehrenvorsitzende der SPD, wie genau Gorbatschow die Reaktionen der DDR-Bevölkerung bei seinem Besuch wahrgenommen hätte. Besonders beeindruckt habe ihn die Gleichzeitigkeit zweier Parolen: „Wo ist unser Gorbatschow“ und „Wir bleiben hier“.

Zur Situation in der DDR meinte Brandt, daß die Entwicklung in der DDR von Sachsen, „dem alten Stammland der Sozialdemokratie“ zunehmend bestimmt werde. Hier sei die oppositionelle Bewegung am weitesten und habe schon auf den Sicherheitsapparat übergegriffen.