Wahnsinnsfabrik Unterhaltung

■ Jerome Deschamps „Lapin-Chasseur“ im Frankfurter Theater am Turm

Sie bewegen sich, als sei ihnen nichts mehr peinlich. Die Chefin des Vergnügungsrestaurants reißt enthemmt am zwickenden Höschen, ein leicht debiler Küchenjunge schlingt Nudelsuppe herunter und prustet die Nudeln wieder aus, eine große Schlacksige wippt dümmlich grinsend durch die Gegend, ihre ganze Erscheinung eine einzige Peinlichkeit. Jerome Deschamps Horrorfiguren aus der alltäglichen Wahnsinnsfabrik sind so sympathisch, weil sie sich unbeobachtet fühlen. Der französische Regisseur läßt sie in einem Gemütszustand vor das Publikum treten, der heute immer seltener wird: Ungestylt und frei von jeder modischen Attitüde stellen sie ihre Deformationen, Spleens und Gehässigkeiten zur Schau.

Langsam läuft der Abend an. Die Gäste sind bereits da, während in der Küche noch Gänse gestopft und Hummer zerlegt werden und das Geschirr durch die Luft fliegt. Die Zuschauer wurden am Eingang geteilt und sehen jetzt auf entgegengesetzten Teilen der Bühne jeweils nur eine Hälfte der Inszenierung: Auf der einen Seite die Küche, auf der anderen das Restaurant, dazwischen eine Wand. Aber durch den langen schmalen Spalt der Durchreiche ist andeutungsweise auch immer zu sehen, was auf der anderen Seite passiert. Manchmal ist von dort das prustende Gelächter der anderen zu hören. Hat man etwas verpaßt? Eigentlich würde man gerne rüberspringen, um zu sehen, was dort los ist...

Im Pariser Theatre National de Chaillot, das Dechamps „Lapin- Chasseur“ mit dem Frankfurter „Theater am Turm“ koproduzierte, inszenieren Regisseure wie Jerome Savary und Thomas Langhoff, experimentieren Gruppen wie „Roc in Lichen“ mit Ausdrucksmöglichkeiten des Tanztheaters (siehe Besprechung in der taz vom 7.8.). Wenn überhaupt, dann hat Deschamps Wahnsinnstheater entfernt etwas mit Savarys Revuen zu tun. Aber auch dieser Vergleich hinkt. Denn Deschamps irrwitzige Choreographien der Küchengegenstände und Katastrophen, lautmalerisch ergänzt mit Gebrabbel aus französischen Urlauten, seine Personalanarchie schlechthin haben Vorläufer eher im Film, bei Laurel und Hardy, Buster Keaton oder den Marx Brothers. Wenn seine Akteure das böse Schicksal ereilt, dann wie im Kasperletheater: Während sie sich gerade unbeschwert irgendeinem teuflischen Vergnügen hingeben, kommt von hinten ein unsichtbarer Kasper und gibt ihnen eins über die Rübe.

Nach der Pause tauscht das Publikum die Plätze, man beobachtet nun die kunstvolle Präsentation dilletantischer Unterhaltung im Restaurant. Die Zuschauer werden beschämt: Ihre Angst, Unterhaltung zu versäumen, wird von Deschamps Schauspielern auf das zurechtgestutzt, was sie in Wirklichkeit ist - Sensationslüsternheit. Wo Unterhaltung aus der Not geboren ist, gibt es nichts zu versäumen: Das Fernsehgerät kann wieder abgeschaltet werden; Deschamps Stück über den Wahnsinn der Unterhaltung um jeden Preis hat seine Wirkung getan.

Zuletzt versucht eine hagere, krumme Küchenhilfe einen Schuhplattler. Das Publikum schüttelt sich immer noch vor Lachen, aber langsam vergeht es ihm. Es wird still. Denn da zuckt Eine, der das Theater keinen Spaß macht. Sie zuckt, weil sie muß.

Jürgen Berger