Der Anus des Großen Ameisenbärs

■ Zu Ehren von Claude Levi-Strauss zeigt das Pariser „Musee de l'Homme“ eine Ausstellung über die Ethnologie der amerikanischen Indianer

Staunend stehen wir vor dem Schaukasten: Die Welt des Großen Ameisenbärs ist komplex. Ein sonderbares Tier, zweifellos: vorne zwei Elefantenfüße, hinten bekrallte Bärentatzen; vorne endet die Gestalt in einem staubsaugerförmigen Gebilde, hinten verdeckt ein haariges Gebüsch manches Wesentliche. Letzteres ist schade, denn der interessierte Laie hätte gerne gewußt, ob der Myrmecophaga jubata einen Anus besitzt oder nicht. Bekanntlich eine nicht unwichtige Frage, jedenfalls nicht für den, der mit strukturalistischer Ethnologie der Indianer befaßt ist.

Wir befinden uns in der Ausstellung „Die Amerikaner des Claude Levi-Strauss“, des Altmeisters der strukturalistischen Menschenkunde, und wissen folglich, daß ein Ameisenbär nie nur Ameisenbär ist, sondern neben Essen und Verdauen vor allem semiotische Funktionen zu erfüllen hat. Das Studium der amazonischen Mythen hat Levi-Strauss gelehrt, daß „Pflanzen und Tiere in gleicher Weise denk-bar wie eßbar sind.“ Als Zeichenträger im Mythos wirkt der Große Ameisenbär, der hier so harmlos ausgestopft vor uns steht, als logischer Operator, durch den die Welt interpretierbar wird.

Die Indianerstämme des Amazonas, die den Ameisenbär generationenlang sorgfältig studierten, wußten dem Pariser Forscher nun zu berichten, daß dieser (der Bär) keinen Anus besitze, deswegen auch keine Ausscheidungen tätigen könnte und sich folglich nur von winzigen Insekten ernährte. Auch sei er ein übriggebliebener und vom Demiurgen vergessener Prototyp des Menschen, der vor lauter Alter das Sprechen verlernt hätte. Durch seine Anuslosigkeit und seinen geringen Appetit ist der Große Ameisenbär das sichtbare Zeichen der Präsenz einer unterirdischen Zwergengattung, die sich - von gleicher mangelhafter Physiologie wie der Bär von Gerüchen ernähren und in deren Welt alles umgekehrt verläuft wie in Alices „Welt hinter dem Spiegel“.

Bemerkenswerterweise fungiert nicht nur der Ameisenbär als Repräsentant der Zwerge, sondern gleichfalls und in gleicher Weise des Faultiers, das aus diesem Grunde ebenfalls seinen Platz im Schaukasten des „Musee de l'Homme“ gefunden hat. Ähnlichen Gemüts wie der Ameisenbär ernährt sich das Faultier von Luft, es fäkaliert selten oder nie. Ein Musterexemplar analer Disziplin, und deswegen, so Levi -Strauss, Pol einer strukturellen Beziehung, deren anderes Element (orale Gier) von keinem anderen als dem Ziegenmelker gebildet wird, jenem unersättlichen Nachtvogel.

Angenommen, daß diese semiotische Struktur in allen Mythen zu finden ist, und weiterhin unter der Voraussetzung, daß ihre Elemente (Faultier, Ziegenmelker) ohne weiteres ersetzbar sind (etwa durch den Großen Ameisenbär) - dann müßten sich ähnliche Mythen auch in Landstrichen ohne Ameisenbären und Faultiere finden lassen. Und tatsächlich: Levi-Strauss stößt bei den Apachen und kanadischen Indianern auf unterirdische Zwerge, die durch Tiere, diesmal Eichhörnchen, repräsentiert sind.

All diese mythischen Strukturalismen, diese geschickten Zuordnungen, sind lehrreich und interessant, nur - in der Pariser Ausstellung tauchen sie nicht auf. Der wißbegierige Besucher bleibt alleingelassen mit spärlichst beschrifteten Schaukästen, in denen Brüllaffe, Ameisenbär, Faultier und Ziegenmelker ausgestopft auf Bedeutungen warten, während nebenan Indianerpuppen Stilleben demonstrieren. Keine graphischen Verdeutlichungen der Zusammenhänge, nichts. Dabei bieten sie sich beim Strukturalismus förmlich an. Nur stumme Tonkrüge, Skulpturen des kanadischen Haida-Künstlers Bill Reid, Masken, Fetische aus dem Fundus des Museums. Eine dreidimensionale Bebilderung eines Textes, der sich dem Besucher entzieht, wie das Einzelne der strukturellen Analyse. Von einer Ausstellung darf mehr erwartet werden.

Statt dessen ließ man eine fünfzehn Meter lange Pirogge von der „Kerr Steamship Ltd.“ aus Kanada einfliegen, die von Haida-Indianern von Rouen bis zum Pariser Trocadero gerudert wurde. Die Indianer sind Freitag wieder nach Halifax geflogen, die Pirogge steht bis auf weiteres in der Halle des Menschenmuseums - stummes Zeichen einer Welt, die die Pariser Ausstellung dem Besucher komplex erhalten möchte.

Alexander Smoltczyk

„Les Ameriques de Claude Levi-Strauss“, noch bis zum 24.April 1990 im „Mus'ee de l'Homme“ in Paris. Als Katalogersatz ist bei Plon „Des symboles et leurs doubles“ erschienen, eine empfehlenswerte Textsammlung zu Levi -Strauss für 150 Franc.