Reformen a la Hager sind uns zu mager" / In der DDR beginnt die entscheidende Phase für die Formierung der Opposition

Am 13.August dieses Jahres ruft der bis dato kaum bekannte Physiker Hans-Jürgen Fischbeck vor 400 Teilnehmern eines Fürbittgottesdienstes in der Ostberliner Bekenntniskirche zur Gründung einer DDR-weiten oppositionellen Sammlungsbewegung auf. Ein spontaner, eher hilfloser Akt, wie einer der Beteiligten später berichtet. Man habe der defätistischen Stimmung der überwiegend ausreisewilligen Gottesdienstbesucher einfach etwas entgegensetzen müssen. Eine trotzig-verzweifelte Demonstration, daß es in dem langsam auslaufenden Land immer noch Leute gibt, die eine aktive Veränderung zum Besseren für möglich halten. Zwei Monate nach diesem unspektakulären Ereignis, mit dem sich die neue DDR-Opposition - ohne es noch recht zu wissen - zu formieren beginnt, mag schon kaum einer mehr glauben, daß der Reformprozeß noch zu stoppen ist.

Politische Alternativen formuliert

Innerhalb weniger Wochen hat sich die gesellschaftliche und politische Situation in der DDR dramatisch verschoben. Bis dahin präsentiert sich das Regime konzeptionslos, politisch paralysiert, machtvollkommen und - unangreifbar. Die Opposition verdankte ihre fast vollkommene gesellschaftliche Isolation einer hochgradigen Provinzialität und Zerstrittenheit, einem allgegenwärtigen Staatsapparat und einer Bevölkerung, deren Zukunftsoption sich auf die Alternative Resignation im Lande oder Ausreise in die BRD beschränkte. Heute sieht sich das Regime mit einer Opposition konfrontiert, die faßbare politische Alternativen formuliert, an die Öffentlichkeit bringt und die Hoffnungen der Bevölkerung beflügelt. Die jahrelang marginalisierte Opposition entwickelt sich zu einem Machtfaktor, der das Entscheidungsmonopol der Partei über die Zukunft der DDR ernsthaft in Frage zu stellen beginnt.

Daß der „Sozialismus in den Farben der DDR“, der bis vor kurzem als hartnäckigste Bastion des alten Denkens galt, in die Brüche geht, ist trotz des jüngsten Aufbruchs nicht in erster Linie auf die Politik der neuen Opposition zurückzuführen. Vielmehr profitierte sie von der kulminierenden Krise des Systems, deren konzentrierter Ausdruck der Exodus in den Westen ist. Daß die Opposition erst dieses drastischen Anstoßes bedurfte, bevor sie in die Offensive kam, wirft noch einmal ein Schlaglicht auf ihre bisherige Verfassung. Erst die unverschämte, propagandistische Ignoranz der Herrschenden, kontrastiert durch die triumphalen Berichte der Westmedien, schufen die Atmosphäre, in der sich die oppositionelle Flucht nach vorn den zum bleiben Entschlossenen als einzige Alternative aufdrängte. Es gehört zur Ironie der jüngsten Entwicklung, daß ausgerechnet die als Jubelinszenierung geplante 40-Jahr -Feier des Systems den Umschwung brachte. Sie steigerte den Kontrast zwischen Realität und Fassade ins - auch für DDR -Verhältnisse - endgültig Unerträgliche; und sie verhinderte im Vorfeld die radikale Unterdrückung der sich konstituierenden Opposition. Die Führung zog es vor, die Selbstinszenierung nicht auch noch durch eine Repressionswelle im Land weiter international ins Zwielicht zu rücken, was sich im nachhinein als gravierende Fehlkalkulation in der Logik des Machterhalts herausstellt. Das Regime unterschätzte die Möglichkeit, daß es nach der Feier für die Klarstellung der alten Verhältnisse zu spät sein könnte. Die Knüppeleinsätze an der Schönhauser Allee, die das Ende der Feier signalisierten, führten zwei Tage später in Leipzig zur bis dahin größten Massendemonstration seit 1953.

Oppositioneller Durchbruch

Der Aufruf zur DDR-weiten Sammlungsbewegung vom 13.August markiert den Beginn des neuen oppositionellen Selbstbewußtseins. Ihm folgten innerhalb weniger Wochen eine Initiativgruppe zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei, der „Aufruf 89“ zur Gründung des „Neuen Forums“, die Gruppe „Demokratischer Aufbruch“ sowie Ende September die Gruppe „Bürgerbewegung Demokratie jetzt“ und die „Böhlener Plattform“. Die vielfältigen Initiativen zeigten zwar, daß der Druck der Krise Bewegung in die bis dato selbstgefällige Szene brachte; zugleich aber erinnerte das unkoordinierte Vorgehen an die bisherige Grüppchenwirtschaft. Daß die Gründungen eine neue Qualität intendierten, ergab sich erst aus ihrem Anspruch, landesweit zu arbeiten und die Loslösung der Opposition von der Kirche zu vollziehen. Den Nachweis, daß dieses Ziel auch in der DDR gelingen könnte, erbrachte überraschenderweise die Gruppe, die mit dem politisch unprofiliertesten Aufruf an die Öffentlichkeit ging. Das Neue Forum forderte lediglich einen demokratischen Dialog, um einen Ausweg aus der Krise zu eröffnen. Über die „Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur“ müsse in aller Öffentlichkeit nachdedacht werden. Alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, denen die Umgestaltung des Landes am Herzen liegt, wurden aufgerufen, sich zu beteiligen.

Unerwarteter Zulauf

Der Aufruf, dessen gesellschaftliche Resonanz alle anderen Gründungen in den Schatten stellt, entwirft kein Programm zukünftiger Veränderung, er stellt keine Forderungen und gibt auch keinen Adressaten möglicher Veränderungswünsche an. Seine Attraktivität beruht offenbar auf dem basisdemokratischen, das tatsächliche Ausmaß der Krise eher harmonisierenden Impetus. Er spricht offensichtlich gerade diejenigen an, die bislang trotz der Misere keinerlei oppositionelle Neigungen verspürten. Er suggeriert so etwas wie die Möglichkeit einer konfliktlosen Veränderung des Systems, was die bis dahin weitverbreiteten Berührungsängste der DDR-Bevölkerung mit den immer wieder kriminalisierten oppositionellen Ansätzen unterlief. Indem das Neue Forum zudem jegliche programmatischen Aussagen vermied, vermittelte es auch politisch unprofilierten Menschen das Gefühl, nicht erneut für vorgegebene Inhalte eingespannt zu werden.

Trotz der fehlenden programmatischen Perspektiven benennt der Aufruf das entscheidende Defizit der Gesellschaft: die fehlende Öffentlichkeit. Damit setzt die massenwirksame Plattform auch ohne ausformulierte Zielperspektive den Hebel an eine entscheidende Grundlage der Einparteienherrschaft. Die staatliche Ablehnung einer Legalisierung des Neuen Forums konnte kaum überraschen. Wenn der moderate Ton des Papiers eine Zulassung erleichtern sollte, so machte die staatliche Reaktion solchen Spekulationen schnell ein Ende: Der Verdacht einer staatsfeindlichen Vereinigung wurde zwar später bei der mündlichen Begründung abgemildert - trotzdem blieb die SED bei dem Verdikt: es bestehe kein gesellschaftlicher Bedarf.

Weil das unerwartet viele BürgerInnen anders sahen und sich per Unterschrift der Bürgerinitiative anschlossen, war die praktisch ohne Infrastruktur gestartete Bewegung der 40 Erstunterzeichner inhaltlich und organisatorisch schon bald hoffnungslos überfordert. Um zu verhindern, daß das ganze zu einer Unterschriftenaktion verkommt, will sich das Forum jetzt eine basisdemokratisch legitimierte Struktur schaffen, die fürs erste auf einem zentralen Sprecherrat sowie regionalen Leitungsgremien basiert.

Daß die Initiative trotz schwieriger Kontakte, ohne feste Organisation und publizistische Infrastruktur nicht versandet, beruht auf der mobilisierenden Kraft des Aufrufs, der die bislang ausweglose Stimmung im Land umzudefinieren begann. In kurzer Zeit wurde das Forum bei den öffentlichen Versammlungen und Demonstrationen zum Synonym für die ausstehende Reform - Umgestaltung in den Farben der DDR. Das Neue Forum ist Demonstrationsparole, die Forderung nach Legalisierung das Nahziel auch für diejenigen, die kaum mehr als den Namen kennen.

Angedeutete Parteiperspektiven

Das neue Forum unterscheidet sich durch seine programmatische Offenheit von allen anderen Initiativen. Während die Reformkonzepte möglichst unter Beteiligung aller Interessierten ausgearbeitet werden sollen, gingen die anderen Gruppierungen mit konkreten Vorstellungen an die Öffentlichkeit. Inhaltlich dicht beieinander liegen die „Bürgerbewegung - Demokratie jetzt!“, die aus dem Aufruf vom 13.August hervorging, und die Initiative „Demokratischer Aufbruch“, die von der Pastoren-Troika Eppelmann, Richter und Schorlemmer geprägt ist. Beide zielen auf einen Reformsozialismus, wobei der „Aufbruch“ seine christlichen Implikationen, „Demokratie Jetzt!“ seine sozialistische Perspektive deutlicher pointiert. „Demokratie jetzt!“ obwohl ebenfalls in den Anfängen der inhaltlichen Arbeit bietet mit dem demokratischen Umbau der staatlichen Institutionen, der erst noch zu realisierenden Vergesellschaftung der Produktionsmittel und einer konsequent ökologischen Verpflichtung einer künftigen Politik die deutlicher formulierten Zielsetzungen. Daß die erste Fassung des Programms unter dem Eindruck der starken gesellschaftlichen Resonanz des neuen Forums durch eine sprachlich populärer gehaltene Version ersetzt wurde, deutet auf das Mobilisierungsproblem beider Gruppen hin. Ihr Zusammenhang beruht in erster Linie auf dem Initiatorenkreis, der seit Jahren zusammenarbeitet. „Demokratie Jetzt!“ setzt bei der weiteren Strukturierung auf die lockere Koordination regional arbeitender Gruppen, während der „Aufbruch“ auf seiner konstituierenden Sitzung am 1.Oktober eine straffe Organisation beschloß. Mitinitiator Eppelmann will „weg von der Spontaneität, hin zu Verbindlichkeit und festen Strukturen“.

Die Sozialdemokraten hat dieses Interesse gar zur Parteigründung veranlaßt. Rechtliche Vorbehalte, die die Konstituierung des „Aufbruchs“ als Partei verhinderten, wurden von den Sozialdemokraten ignoriert. „Wir haben dem Staat unsere Gründung mitgeteilt. Wir bitten nicht um Legalisierung. Wir sind von den Bürgern legitimiert“, wischt Mitbegründerin Charlotte Barbe die Bedenken vom Tisch. Die Abgrenzung von der bundesdeutschen SPD macht der SDP da schon mehr Mühe. „Wir sind kein Ableger der Lafontaine- oder Vogel-SPD“, meint Geschäftsführer und Inspirator Ibraim Böhme.

Zu solchen Mißverständnissen führt nicht nur die gemeinsame Tradition, auf die sich beide Parteien beziehen. Auch der Programmpunkt „soziale Marktwirtschaft“, der sich im Forderungskatalog der Partei findet, provoziert deutliche Assoziationen. Die SDP versucht an die breite sozialdemokratische Strömung, die sich trotz kommunistischer Dominanz in Partei und Gesellschaft erhalten hat, anzuknüpfen - ein Kalkül, das irgendwann auch die Hochkonjunktur des Forums brechen könnte.

Daß sich die DDR-Opposition nicht in einer einzigen Bewegung zusammengeschlossen hat, beruht auf dem spontanen, unkoordinierten Vorgehen der Initiatoren und der Bindewirkung älterer Arbeitszusammenhänge. Die anfängliche Erwartung jedoch, die Gründungswelle bedeute nur eine Fortsetzung der oppositionellen Zersplitterung auf neuem Niveau, hat sich nicht bestätigt. Die unterschiedlichen Gruppen haben gegenseitige Zusammenarbeit vereinbart und ein gemeinsames Bündnis für die Volkskammerwahlen beschlossen. Die Krise des Systems hat den weitreichenden Grundkonsens seiner Kritiker forciert. Bei aller programmatischen Unausgereiftheit, die eine „Opposition im embrionalen Zustand“ (Schorlemmer) kennzeichnet, können sich derzeit noch alle die Gruppen mit der Perspektive eines demokratischen Sozialismus identifizieren. Als mittelfristige Ziele gelten allgemein die Herstellung von Öffentlichkeit sowie die Legalisierung und Beteiligung der Opposition am gleichberechtigten Dialog über eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft. Gemeinsame Forderung ist die Institutionalisierung des Dialogs; der darf - so Schorlemmer - weder der Ausnahmefall für Krisenzeiten noch ein Gnadenakt des Staates bleiben.

Die Zeit wird knapp

Eine gemeinsame Strategie, wie das zu erreichen sein soll, fehlt bislang. Alle scheinen vor dem Hintergrund der jüngsten Reformsignale zunehmend auf einen von oben unterstützten Wandel zu setzen. Die Veränderungen der Berichterstattung der letzten Tage, der Abdruck kritischer Resolutionen in den offizielllen Medien scheinen diesen Optimismus zu stützen. Neben der Etablierung eigener unabhängiger Publikationen besteht derzeit in allen Gruppen Zuversicht, daß auch die offiziellen Medien sich der Opposition auf Dauer nicht verschließen werden. Derzeit zeichnet sich so etwas wie eine interne oppositionelle Arbeitsteilung ab. Die kleineren Gruppen setzen darauf, daß früher oder später ihre jetzt diskutierten programmatischen Konzepte gefragt sein werden. Das Selbstverständnis des Forums beruht in erster Linie darauf, die Reformdiskussion weiter in die Gesellschaft zu treiben, um so den sich abzeichnenden Wandlungsprozeß unumkehrbar zu machen.

Was die Demonstrationen betrifft, sind die Einschätzungen eher zurückhaltend. Zwar sind sich die Gruppen bewußt, daß die sich andeutende Kurskorrektur und damit die Chance auf Durchsetzung eines Reformdialogs von den Massendemonstrationen der letzten Tage entscheidend forciert wurden; doch die Gruppen versuchen nicht durch offene Unterstützung oder gar Aufrufe zu Demonstrationen den rasanten Prozeß weiter anzuheizen. Für eine Opposition, die jahrelang mit der verknöcherten Formel „vom Brückenschlag in die Gesellschaft“ operierte, ohne ihn auch nur ansatzweise zu realisieren, verursacht die unerwartete rasante Mobilisierung auch Unbehagen. Pfarrer Eppelmann rief nach der Leipziger Demonstration vor einer Woche und den ersten zwielichtigen Gesprächsangeboten zum Stopp der Kundgebungen auf. Die Angst vor einer unkontrollierbaren Situation sitzt

-nicht nur bei der Führung - tief. Die sozialistische Opposition in der DDR weiß um ihren Balanceakt. Sie darf die jüngste Offensive nicht überreizen und weiß zugleich, daß angesichts der jahrzehntelangen Diskreditierung des Sozialismus die Chance für die linke Alternative in der DDR schwindet. „Den linken Ideen“ - so Friedrich Schorlemmer „läuft die Zeit davon.“

Matthias Geis