120.000 haben das SED-„Geplapper“ satt

Die Antwort auf den SED-Kleisterkurs: 120.000 demonstrierten in Leipzig, Zehntausende in anderen Städten / Demonstranten erzwingen öffentliche Diskussion in Dresden / Neue Krisensitzung des Politbüros? / Harte Urteile gegen ausreisewillige Dresdener wegen „Rowdytums“  ■  Von Petra Bornhöft

Berlin (taz/ap) - Dialog und Reformen a la Erich (Honecker) sind dem Volk zu spärlich. 120.000 Demonstranten in Leipzig, 10.000 jeweils in Magdeburg und Dresden, 5.000 in Halle, 3.000 in Ost-Berlin sowie eine unbekannte Zahl in Plauen das war am Montag abend die Antwort der DDR-BürgerInnen auf die Politbüro-Erklärung der SED vom vergangenen Mittwoch. Ob auf der Straße oder in Kirchen, die Parolen sind überall gleich: Demokratie, Zulassung des „Neuen Forums“ und anderer Gruppen, freie Wahlen, Presse- und Meinungsfreiheit, Aufhebung des neuen Visazwanges für Reisen in die CSSR. Mitglieder des „Neuen Forums“ in Leipzig zur taz: „Der Staat hat nicht begriffen, was Dialog heißt. Die denken, Hauptsache, man plappert ein bißchen miteinander.“ (Siehe Seite 8)

Gestern brüteten in Ost-Berlin angeblich wieder die Herren des Politbüros. Beobachter vermuten, daß sich die wöchentliche Routinesitzung dieses Gremiums zur Krisensitzung entwickelte, ähnlich wie in der vergangenen Woche.

Einzig 'adn‘ und das DDR-Fernsehen hatten noch am Montag abend auf die verschärfte Situation reagiert. 'adn‘ dankte den Sicherheitskräften, daß es nicht zu Ausschreitungen gekommen sei, das Fernsehen rang sich erstmalig eine aktuelle Meldung ab. Wie wenig sich die Führung über den Ernst ihrer Lage klar ist, bewiesen die DDR-Zeitungen gestern morgen: Obwohl das Präsidium des Schriftstellerverbandes Tage zuvor seine Resolution mit dem Wunsch nach „revolutionärer Reform“ an alle Redaktionen verschickt hatte, erschien der Text nicht. (Nur die CDU -Zeitung hatte ihn vorher abgedruckt). Statt dessen erneut seitenlanges „Dialog„-Geschwafel.

Neu indes, daß das 'Neue Deutschland‘ Arbeitern vorsichtige Kritik an der von Honecker verantworteten Linie gestattet. Im Ost-Berliner Werk für Fernsehelektronik hätten Arbeiter, so das 'ND‘, dem lokalen SED-Chef Günter Schabowski vorgehalten, die Politbüro-Erklärung sei „noch nicht aus einem Guß“ gewesen. Sie, die Arbeiter, hätten schon vor Bekanntwerden des Papiers auf „Antworten von oben“ gedrungen, „um zu vermeiden, daß eingetretene Vertrauensverluste größer werden“. Von der Parteiführung erwarte man jetzt „auch eine selbstkritische Einschätzung und klare Schlußfolgerungen“. Zweite Neuheit: Die 'Leipziger Volkszeitung‘ berichtete gestern, daß der lokale SED -Bezirkssekretär Roland Wötzel - seit geraumer Zeit als kritisches Stimmchen bekannt - bei einem Frühschoppen verlangt habe: „Wir brauchen einen Reisepass für jeden Bürger.“ Über die Demonstrationen in Leipzig und Dresden hier zwang die Menschenmenge Oberbürgermeister Berghofer, öffentlich Rede und Antwort zu stehen - berichtet die taz auf den Seiten 2 und 3.

Während in den meisten Städten die in den vergangenen Wochen Inhaftierten, teilweise zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen Verurteilten, wieder frei sind, verhängte ein Dresdener Gericht neuerdings unüblich harte Urteile. Nach Angaben der 'Jungen Welt‘ sollen drei junge Männer für dreieineinhalb bis viereinhalb Jahre in den Knast, weil sie am 5.Oktober versucht hätten, auf die DDR-Züge Richtung Bonner Botschaft in Prag zu springen. Angeblich beteiligten sich die drei an der Schlacht zwischen Polizei und Ausreisewilligen im Kuppelgebäude des Dresdener Bahnhofes. In deren Verlauf waren Scheiben und Fahrkartenautomaten zu Bruch gegangen, ein Mitropa-Lager geplündert, Polizeiautos angezündet worden sowie - laut 'ND‘ - „85 Quadratmeter Pflastersteine“ durch die Luft geflogen.

Im Magdeburger Dom, wo sich Montag abend 10.000 Menschen an einem „Gebet für demokratische Erneuerung“ beteiligten, verlasen Pfarrer ihren Brief an das Ostberliner Innenministerium. Darin wird die Zulassung aller gesellschaftlichen, auch oppositionellen Gruppen und der Dialog mit ihnen verlangt. Auch in Halle hat der Oberbürgermeister sich mittlerweile an das Gespräch mit einer „Bürgergruppe“ herangerobbt.