Rajiv oder P.V. - was ändert's?

Mit Jawaharlal Nehrus hundertstem Geburtstag und Indira Gandhis fünftem Todestag feiert sich die indische Congress-Partei durch den Wahlkampf / Erstmals sieht die Opposition der „Nationalen Front“ eine reale Gewinnchance / Nur eine Schocktherapie kann die Congress-Partei noch retten  ■  Aus Neu Delhi Gisela Widmer

Indien, die größte Demokratie der Welt, soll bis Ende dieses Jahres ein neues Parlament wählen. Durch den Umstand aber, daß die Nehru-Gandhi-Dynastie fast vier Jahrzehnte den Regierungschef stellte, ist die indische Demokratie aus der Übung gekommen: Die zerstrittene Opposition kämpft mit Schlamm statt mit Ideologie. Und die regierende Congress -Partei versucht mit sehr viel Aufwand den Beweis zu erbringen, daß einzig ein Nehru-Gandhi das Land regieren kann.

Eine schönere Koinsidenz hätten die Strategen der regierenden Congress-Partei im Wahljahr 1989 nicht erfinden können: Vor genau 100 Jahren, am 14.November 1889, wurde Jawaharlal Nehru, Vater der Nation und Großvater des amtierenden Premierministers Rajiv Gandhi, geboren.

Landauf und landab wird nun sein Geburtstag gefeiert - seit einem Jahr schon. Da trifft sich die halbe Nation zu einem „Rehru centenary run“ mit Rajiv Gandhi an der Spitze. Da werden Seminare und Konferenzen zum Thema Nehru organisiert. Da vergeht kein Tag, an dem Nehrus Leistungen nicht von Staatsseite aus bejubelt werden. Vor allem die Fernsehanstalt 'Doordarshan‘ (television) verbreitet derart konsequent eine Nehru-Euphorie, daß das Magazin 'Sunday‘ von „Goebbels'schem Erfindergeist und Scharfsinn“ spricht: „In dieser Mammutkampagne wird zwar unser erster Premierminister Jawaharlal Nehru vergöttert, doch die eigentliche Botschaft lautet: Einzig die Nehru-Familie kann unsere Nation schützen.“

Der Staatsapparat wird von der Dynastie mißbraucht

Ebenfalls dezidiert äußert sich der sozialistische Ex -Abgeordnete Madhu Limaya: „Der ganze Staatsapparat und die Steuergelder werden mißbraucht, um die Dynastie zu glorifizieren.“ Und Ram Jethmalani, einer der fähigsten Oppositionellen, meint: „Nehru würde sich im Grabe umdrehen, wenn er sähe, wie sein Name vermarktet wird. Er hätte einer korrupten Regierung niemals erlaubt, aus dem Namen Nehru politisches Kapital zu schlagen.“

Doch mit Nehru nicht genug: Am 31.Oktober jährt sich zum fünften Mal der Todestag der Nehru-Tochter Indira Gandhi. Von Sikh-Leibwächtern erschossen, läßt sich ihr Tod als Märtyrium vermarkten. Am 14.November wird Nehrus Geburtstag gefeiert - mit tausenden von Schulkindern und allem, was eine funktionierende Propagandamaschinerie so erfinden kann. Fünf Tage später, am 19.November, ist Indiras Geburtstag an der Reihe. Dann erst kann der Nehru-Enkel und Indira-Sohn Rajiv Gandhi zum großen Finale blasen: Parlamentswahlen. „Mit der Hundertjahrfeier“, so das 'Sunday'-Magazin, „hat die Congress-Partei einen zündenden Wahlkampfschlager gefunden.“

Die Art und Weise, mit der die Congress-Partei und die Regierung Gandhi das Ereignis politisch ausschlachten, sagt so ziemlich alles über den Stand der indischen Demokratie aus: Ideologische Bekenntnisse sind nicht gefragt, Leistungsnachweise für die vergangenen fünf Jahre nur schwer zu erbringen. Etwa 500 Millionen Wählerinnen und Wähler sollen vom mehr oder weniger gottgewollten Führungsanspruch der Nehru-Gandhi-Dynastie überzeugt werden. Im 43.Jahr der indischen Unabhängigkeit hat die „größte Demokratie der Welt“ ihre Mühe mit der Demokratie.

Einzig in den Jahren 1977 bis 1979 hätte die Opposition beweisen können, daß es eine Alternative zur Nehru-Gandhi -Familie gibt. Doch die Zeit der damaligen Janata-Regierung ging als ein politisches Desaster in die indische Geschichte ein - Indira Gandhi, die vor der „Wende“ in zwei Jahren mit dem Ausnahmegesetz überlebt hatte, feierte ein triumphales Comeback. Und genau dieses sorgfältig aufgebaute Machtmonopol der Congress-Partei rächt sich heute. Allen vorbeugenden Maßnahmen der Congress-Partei zum Trotz, konnte sich in den vergangenen zwei Jahren eine Opposition aufbauen, die diesen Namen einigermaßen verdient. Doch die Regierung von Rajiv Gandhi - ein bislang verwöhntes Einzelkind - weiß nicht, wie sie mit der überraschend aufgetauchten Opposition umgehen soll. Und die Opposition ihrerseits steht noch immer ziemlich verwirrt vor der Tatsache, daß sie sich in ihrer großen Zerstrittenheit doch gefunden hat und vielleicht sogar Chancen hat, die alte Dame namens Congress-Partei vom Sessel zu stoßen.

Daß es in Indien wieder eine Opposition gibt, ist Vishwanath Pratab Singh, kurz V.P., zu verdanken. Viele andere Oppositionspolitiker hatten auch der Congress-Partei gedient, bevor er im Frühling 1987 herausfand, daß diese Partei inklusive der Regierung korrupt ist. Finanzminister Singh wurde aus Partei und Kabinett geworfen und entwickelte sich in der Folgezeit zur Symbolfigur der zersplitterten Opposition. Jetzt, vor den Wahlen, hat sich ein halbes Dutzend Parteien, denen eine gemeinsame ideologische Basis fehlt, zur „nationalen Front“ zusammengeschlossen.

Zerstrittene Wichtigtuer und Party-Hoppers

„Wer konnte voraussehen“, so ein indischer Kommentator, „daß diese zerstrittenen Wichtigtuer, diese Party-Hoppers und ambitiösen regionalen Kriegsherren zusammenkommen würden?“ Rajiv Gandhi, das Feindbild, hat den Schulterschluß möglich gemacht. Das politische Kredo erschöpft sich denn auch in einem simplen „Anti-Rajivismus“. Es zeichnet sich eine reine Personenwahl ab: Rajiv gegen V.P.

Der renomierte Journalist Pritish Nandy porträtierte die beiden Kandidaten mit den Worten: „Lange Zeit galt Rajiv Gandhi als wundervollster Politiker, bei dessen Anblick Frauen und Kinder, Journalisten und Filmstars in Ohnmacht fielen. Doch V.P. Singhs Zauberstab hat den Prinzen in einen Frosch verwandelt. Erst stellte sich Rajiv Gandhi als naiver, inkompetenter und korrupter Premier heraus. Dann mußte man einsehen, daß auch V.P. Singh ein dummer, unentschlossener und nepotistischer Politiker ist, der sich mit dem Abschaum der indischen Politszene umgibt. Ob Rajiv oder V.P.: Was ändert's schon?“

Tatsächlich ist Indien weit entfernt von einer V.P. -Euphorie. Wo immer man sich umhört, vernimmt man zwar Negatives über Rajiv Gandhi, dessen Regierung und Partei. Doch zumindest unter den Intellektuellen löst der Name V.P. Singh nur gerade ein müdes Lächeln aus. „In meinem Innersten bin ich für die Congress-Partei“, sagt ein Rechtsanwalt. „Aber diese ist in all den Jahren derart verkommen, daß ich meine Stimme schlicht und einfach der Opposition geben muß. Nicht etwa, weil ich auf der Seite der Opposition stehe, sondern weil ich der selbstmörderischen Partei eine vielleicht letzte Chance geben will: Nur eine Schocktherapie kann die Congress-Partei noch retten.“