Hoffnungsträger für zuviele Hoffnungen

Der Brandt-Besuch in Moskau und die sozialdemokratische Opposition / Die alte „neue Ostpolitik“ im Triumph zu Grabe getragen / Den Reformprozessen im Osten muß laut Sozialdemokratien jetzt mehr angeboten werden als „phantasielose Wirtschaftshilfe“  ■  Von Klaus Hartung

Berlin (taz) - Ein historischer Besuch, der von einem historischen Ereignis völlig überschattet wird: dem Rücktritt von Honecker. Denn mit dieser Nachricht aus der Moskauer Zentrale kehrten Willy Brandt und die Seinen zurück. Das war wohl auch der Grund, warum Brandt beim Briefing unmittelbar nach seinem Vieraugengespräch mit Michail Gorbatschow so irritiert abweisend formulierte. Nach dem Gespräch sprach Bahr jedenfalls plötzlich vom „Wandel durch Nähe“. Aber die Sozialdemokraten standen nicht nur unter dem Eindruck des Moskauer Ereignisses, sondern auch unter dem Eindruck einer vielseitigen und vor allem direkten Inanspruchnahme der Sozialistischen Internationale. Sie ist derart massiv, daß die Geschäftsgrundlagen der bisherigen sozialdemokratischen Ostpolitik hinweggefegt werden.

Insbesondere die Treffen am Rande des offiziellen Programms mit Vertretern der offiziellen Programme zeigten, daß die alte ostpolitische Konstellation auch in Moskau zerbrochen ist. „Eine Ostpolitik ohne Verbindung mit den sozialdemokratischen Bewegungen ist überholt“, erklärte Oleg Rumjanzew von der „Sozialdemokratischen Assoziation“ (SDA). Die bitteren Anklagen, die sich Hans Koschnick und Gerhard Schröder in dem kahlen und trüben Raum eines Moskauer Instituts anhören mußten, waren nur ein Zeichen. Wichtiger war, wie präzise und analytisch die Anwesenden, ein Wirtschaftsprofessor, ein Jurist, ein Journalist und ein Verbindungsmann zur Arbeiterbewegung, den Organisationsprozeß der Sozialdemokraten schilderten. Etwa 100 Organisationen in 40 Städten gebe es jetzt, die nach drei Jahren einer „atomisierten Bewegung“ nun im Januar zu einem Gründungsparteitag in Talinn zusammentreffen sollen eine „Vor-Partei-Struktur“. Drei Konferenzen - in Moskau, in Talinn und wieder in Moskau - haben in diesem Jahr stattgefunden. Eine programmatische Plattform mit Thesen zum Mehrparteiensystem, zu den Menschenrechten und zur „social defense“ liegen vor; an einer Wahlplattform wird gearbeitet. Wichtig in diesem Zusammenhang, daß es sich nicht mehr um eine reine Akademikerbewegung handelt. Es gebe einen organisierten Zusammenhang zu den unabhängigen sozialistischen Gewerkschaften. Die sporadische Organisation in Arbeiterklubs habe sich gewandelt. Sie seien zur Teilnahme in Streikkommitees gebeten worden oder Streikorganisationen hätten sie um Computer gebeten. Vor kurzem wurde ein polnisches Dokument zum aktiven Streik übersetzt. Nach dem Bergarbeiterstreik in Workuta habe es Anfragen nach politischer Führung und nach theoretischen Grundlagen gegeben. Alle Anwesenden waren sich außerdem sicher, daß demnächst wieder gestreikt wird. Betont wurde, daß die Schwierigkeiten mit den baltischen Sozialdemokraten, die eine allrussische Organisation befürchteten, überwunden sei. Die SDA werde eine konföderative Struktur haben.

Die organisatorische Arbeit zielt in zwei Richtungen: die Nichtorganisierten und der Reformflügel innerhalb der KPdSU. Hier spielen die Reformklubs innerhalb der Kommunistischen Partei eine Rolle. In dieser Doppelstrategie spiegeln sich widersprüchliche Einschätzungen. Die einen setzen mehr auf die Spaltung der KP und verweisen auf die zwei Panzerdivisionen in Moskau. „Bei einer polnischen Situation haben wir hier China.“ Die anderen spüren eine rapide Aushöhlung des Machtapparates und meinen, daß der Organisationsprozeß der oppositionellen Entwicklung in der SU hinterhinke, so daß gegenwärtig keine Voraussagen zu machen sind. Es wird da gar von „Machtfrage“ gesprochen.

Einigkeit herrschte, wie schon berichtet, jedoch in den Anklagen gegenüber der SPD. Einen schlimmen Eindruck hinterließ dabei der Besuch Egon Bahrs vor einem Jahr, der die Moskauer Sozis nicht nur mit den Einschätzungen der 'Prawda‘ frustrierte, sondern danach auch alle Kontakte abreißen ließ. Hans Koschniks Auftreten hat die Beziehungen sicherlich nicht normalisiert. Zu hochfahrend und auch anbiedernd überprüfte er im Stile eines Reisekaders der Sozialistischen Internationale die Vertreter der SDA.

Aber so wie die Moskauer Sozialdemokraten auf eine Einbeziehung in das „sozialdemokratische Weltsystem“ hoffen, hofft offenbar auch die Führung der Weltmacht. Die offiziellen Zeichen der Wertschätzung der SI waren unübersehbar. Auch Brandt und Bahr betonten den totalen Klimawandel, das völlige Verschwinden früherer „Verachtung“ für sozialdemokratische Organisationen. Die SI und vor allem die SPD wird offenbar als direkter Partner im Ost-West -Krisenmanagement eingeschätzt.

Aber diese sich abzeichnende fünfte Internationale, diese Rolle als Hoffnungsträger für alle Seiten, genossen die Sozialdemokraten in Moskau nur halb, weil diese Rolle kaum durchhaltbar ist. Gegenüber den oppositionellen Guppen wurde vorgebaut durch den Dauerton: „Wir arbeiten nicht konspirativ“. Die SPD-Politiker fragten auch rhetorisch, ob nicht der KGB bei der sowjetischen Sozialdemokratie mitorganisiere. Auf jeden Fall will man der Doppelrolle durch „Offenheit“ entgehen. Brandt hat wohl Gorbatschow über die Kontakte mit sozialdemokratischen Gruppen berichtet und ist selbst nach den Beziehungen der baltischen Gruppen zur skandinavischen Sozialdemokratie gefragt worden. Auf jeden Fall will die SPD Zeit gewinnen. Brandt selbst verwies darauf, daß die Aufnahme in die SI erst in zwei Jahren geschehen könne. Aber die Rolle des ehrlichen Maklers wird schwierig. Ein nachdenklicher Brandt meinte auf dem Rückflug, daß man nicht dabei stehenbleiben könne, dem Reformprozeß im Osten phantasielos wirtschaftliche Hilfe anzubieten“. „Ganz abgesehen davon, daß das arrogant ist.“ Ironie der Geschichte: der triumphale Empfang der Akteure der „neuen Ostpolitik“ von einst war deren endgültige Beerdigung.