FDJ-Profilierungsversuch: An die Spitze der Reformer!

Die Humboldt-Universtät in Ost-Berlin platze am Dienstag abend aus allen Nähten. Mehr als 4.000 Studenten in zehn Hörsälen hatten sich zum ersten Mal zur Diskussion über Reformen in der DDR und in den Universitäten getroffen. Was in den letzten Tagen als Gründungsversammlung eines unabhängigen Studentenverbandes angekündigt worden war, entpuppte sich aber schnell als FDJ-Studienberatungen, bei der ausschließlich StudentenInnen zugelassen waren. Deren Ausweise wurden peinlich geprüft, „Betriebsfremde“ weggeschickt. Man wolle „ohne Gäste tagen“, sagte ein Türsteher der FDJ.

Die Reform-Forderungen der Studenten hätten eigentlich im Hof der Humboldt-Universität verlesen und diskutiert werden sollen. Jetzt, kritisisierte eine Medizinstudentin im überfüllten Auditorium der Hochschule, sei sie „entsetzt, wie das von der FDJ kurzfristig umfunktioniert worden ist“. Statt über eine unabhängige Vertretung oder Reformen zu dikutieren, wäre man nun beim bloßen Disput über eine Erneuerung der FDJ angelangt.

Die Kritik an der staatlichen Jugendorganisation, in der mehr als 80 Prozent aller Studierenden in der DDR Mitglieder sind, griffen auch andere Kommilitonen auf: „Das beste wäre, wenn sich die FDJ gleich auflösen würde.“ Die Aktivisten des verknöcherten Jugendverbandes könnte ja später wieder eintreten. Der staatssozialistische Jugendverband solle dann in einem frei gewählten Studentenparlament beweisen, ob er die Interessen der Studenten wirklich vertrete.

Die FDJ hatte sich kurzerhand selbst an die Spitze der studentischer Reformbemühungen gestellt. Sie verteilte auch die „Handzettel zur Orientierung und Information für die Teilnehmer an den FDJ-Studienberatungen“.

Er sei bereit, „über jede Frage zu diskutieren“, hatte FDJ -Sekretär Richard Schmidt die Versammlung eröffnet. Sein Verband wolle sich auch der Kritik stellen, die Dinge benennen und Lösungen aufzeigen. „Wir wollen beweisen, daß wir als FDJ zu einer Konsensbildung in der Lage sind“, beteuerte er und räumte gegenüber den über tausend Studenten im Marx-Engels-Auditorium ein, daß angesichts der rasanten Entwicklung in Moskau und Ungarn „auch bei uns grundlegende Neuerungen vollzogen werden müssen“. Die FDJ sei auch bereit, über „zu Änderndes und zu Bewahrendes“ im eigenen Statut nachzudenken - zwischen der „spezifischen Bedürfnisstruktur der Studenten und der FDJ gibt es eine zu große Diskrepanz“. Der FDJ-Kreisleitung hielt eine angehende Medizinerin unter dem Beifall ihrer Mitstudenten aber entgegen: „Es hat keinen Sinn, auf Millionen von Mitgliedern zu verweisen, wenn diese nur imaginär sind.“

Die Eckpunkte der Diskussion, die seit den Protest -Demonstrationen zum 40. Jahrestag der Republik nun auch unter den Studenten ausgebrochen ist, waren die Forderung nach einer unzensierten Studentenzeitung, einem unabhängigen Studentenparlament, nach freiem Zugang zu Bibliotheken und Kopierern.

Diskutiert wurde am Dienstag unter FDJ-Leitung auf den verschiedensten Strängen, so, als hätten die Studenten Mühe, den neu gewonnenen Freiraum politisch zu nutzen. Einzelne folgten der Linie „Erneuerung der FDJ als Studenten -Vertetung“. Andere setzten dagegen auf ein unabhängiges und geheim gewähltes Studentenparlament. Wieder andere stellen ihre Forderungen in den Kontext eines gesamten gesellschaftlichen Umbaus und wollten über ein politisches Mandat einer künftigen freien Studentenvertretung diskutieren. Wie beispielsweise Michael P., Student der Mathematik. Er wollte endlich „einen attraktiven Sozialismus erleben“. Die Grundideale des real existierenden Sozialismus, wie das Recht auf Arbeit, die billigen Mieten und Grundnahrungsmittel, wären gut, aber für sich genommen zu wenig. Attraktiv würde der Sozialismus erst mit einer „umfassenden Demokratisierung“ der Gesellschaft und dem Recht, „in einem Staat nach freier Wahl zu leben“. Die Kommilitonen spendeten dafür stürmisch Beifall, wie auch für die Forderung, daß eine Studentenvertretung den Kommilitonen rechtlichen Schutz gewähren müsse, die bei Demonstrationen festgenommen würden, oder die wegen ihres politischen Engagements mit Exmatrikulationen zu rechnen hätten.

Der zweieinhalbstündige Diskussionsverlauf wurde von einer Redaktionskommission protokolliert. Von der FDJ-Kreisleitung zugesichert, sollen die Aufzeichnungen vervielfältigt und anschließend der „Basis“ zur erneuten Diskussion zurückgegeben werden. Am 31. Oktober soll nach dem FDJ -Drehbuch dann ein entscheidungsreifer Vorschlag präsentiert werden. Über die Rolle des Jugendverbandes werden sich die Studierenden bis dahin kaum verständigt haben. „Die haben doch abgewirtschaftet“, rief ein Student der Elektronik beim Verlassen des Auditoriums. Die Funktionäre würden lediglich nach der Parole verfahren: „Es muß sich vieles ändern, damit alles beim alten bleibt.“

Peter Müller