: VERIRRT IM REICH DER SINNE
■ ... haben sich die Lokalkultur-Redaktörinnen und forderten eine gehörlose Mitarbeiterin zur Rezension eines Films über eine Blinde auf
Wahrlich, seltsame Wesen sind Nichtbehinderte, und seltsame Wege gehen ihre Gedanken. Es wäre durchaus logisch, wenn man mich Hörbehinderte bäte, etwas übers Schmecken und Riechen zu schreiben, aber darauf kommt niemand, die Taube soll über Blinde schreiben. Sinn ist Sinn.
Vor Jahren drehte Werner Herzog den Film Land des Schweigens und der Dunkelheit über das Leben einer Taubblinden, natürlich mit der üblichen Ignoranz der Nichtbehinderten ohne Untertitel, die ihn für Teilbetroffene verständlich gemacht hätte. Ich habe mir den Film zusammen mit einem hörenden Bekannten angesehen, der ihn für mich kommentierte. Das half mir zwar beim Verstehen, lenkte aber auch ab.
Was habe ich also von einem Dokumentarfilm über eine Blinde zu erwarten? Nicht blind und nicht hörend. Anscheinend ist es für Sehende und Hörende nicht nachvollziehbar, daß die Kommunikation Hör- und Sehbehinderter sich so kraß voneinander unterscheidet, daß man von zwei miteinander nicht verwandten Sprachen reden kann. Blindheit trennt von den Dingen, Gehörlosigkeit von den Menschen.
Aber zum Film. Renate Ratzel lebt allein. Sie ist Lehrerin für Blinde und hochgradig Sehgeschädigte und selber blind. Der Film zeigt ihren Alltag, die Freizeit, den Unterricht. Renate Ratzel: ein alters-, falten- und (meist) emotionsloses, immerfreundliches Gesicht, dem ich nicht entnehmen kann, ob der dazugehörige Mensch Probleme hat, und welche. Ihre Garderobe darf sie zeigen, adrett pastellfarben, frischgewaschen, gebügelt (von ihr selbst) und steril wie offensichtlich ihr ganzes Leben. Ich erfahre nicht, ob Renate Ratzel ein Geschlechtsleben hat (Behinderte sind bekanntlich geschlechtslos), sie ist ausschließlich für ihre Schülerinnen da. Immerhin möglich, daß zumindest darüber gesprochen wird, aber das kann ich nicht hören, und den Mienen ist nichts zu entnehmen außer Friede, Freude... Der Titel des Films Es ist dunkel um mich herum verspricht eine Auseinandersetzung mit seiner zwiespältigen Aussage. Statt dessen wird er zu einer Apotheose der Blindheit. Der Blindheit auch des Regisseurs.
Die Schülerinnen sind zu beglückwünschen, eine so ausgeglichene Pädagogin zu haben. Ob sie allerdings mit ihren Pubertäts- und anderen Problemen auch zu ihrer Lehrerin gehen können? Die meisten sind mehrfach geschädigt, auf den Rollstuhl angewiesen, spastisch, lernbehindert. Also Heranwachsende, die weitaus mehr Zuwendung brauchen als gleichaltrige Nichtbehinderte. Wenn diese Zuwendung sich aber in der Vermittlung perfekter Harmonie erschöpft, wird das vermutlich lebensuntüchtige, ständig auf andere angewiesene Menschen zur Folge haben.
Ich gebe zu, daß ich diese Kritik in den luftleeren bzw. tonlosen Raum hinein schreibe. Vielleicht sähe alles ganz anders aus, wäre der Film untertitelt. So weiß ich nicht, ob es nur am fehlenden Ton liegt, daß ich am Schluß die Achseln zucke und denke: was soll's?
Für den Europäischen Filmpreis, Sparte Dokumentarfilm, sind folgende Grundsätze maßgebend: „Ein Dokumentarfilm muß die Wahrheit widerspiegeln und einer tiefen Analyse unterziehen. Diese Wahrheit muß dramaturgisch spannend vermittelt werden. Ein Dokumentarfilm muß ein Kunstwerk sein, das uns berührt.“
Ich glaube nicht, daß Es ist dunkel um mich herum ein Anwärter für den Filmpreis ist.
war
Der Videofilm (43 Min.) von Eckart Lottmann wird heute und am 25.10. um 20 Uhr in der MedienOperative, Potsdamer Straße 96, gezeigt. Eintritt 5 DM.
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