DDR-Vordenker denkt ideale DDR

Als der Direktor des SED-Instituts für Wissenschaftlichen Sozialismus, Rolf Reissig, zum Ende seines Statements kam, war dem SPD-Politiker Jürgen Schmude von soviel Offenheit und Reformwillen fast schwindlig. Am Abend vor dem Machtwechsel in Ost-Berlin hätte er Reissig und die anderen beiden „hochrangigen Vertreter der Partei- und Staatsführung der DDR“ am liebsten sofort aus der Aula der Fachhochschule Wolfenbüttel in die DDR zurückgeschickt. „Damit sie gleich anfangen!“

Um den „Beitrag der DDR und der Bundesrepublik zu einem gemeinsamen Europäischen Haus“ sollte sich die Podiumsdiskussion im Rahmen der Wolfenbütteler „Tage der Begegnung mit der DDR“ drehen. Doch dann war in der Runde aus den Ex-Ministern Schmude und Baum, dem Sprecher der Grünen Helmut Lippelt und gleich drei Direktoren wissenschaftlicher Institute der SED bzw. des DDR -Staatsrates natürlich die aktuelle Diskussion in der DDR das Thema. „Vertrauensvolle Beziehungen zwischen der DDR und BRD und Entspannung gibt es nur ohne Destabilisierung“, begann Professor Reissig, Direktor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, seinen Diskussionsbeitrag. Doch dann ging es los: „Stabililtät der DDR heißt, die neue Situation zu erkennen, die gravierend anders ist als im Mai oder Juni“, sagte er und verlangte „den gemeinsamen offenen und freien Diskurs“ über die Ursachen des Weggangs von zehntausenden junger Menschen aus der DDR. Zu den Ursachen zählten legitime materielle Interessen, wie das Bedürfnis, nicht zwölf Jahre auf einen Trabbi zu warten. Die jungen Leute erwarteten aber auch die Erfüllung politischer Bedürfnisse. „Die DDR muß eine Demokratie entwickeln, bei der Offenheit und Transparenz an erster Stelle stehen, die die Bürger auf allen Ebenen beteiligt“, verlangte der SED-Vordenker. Die Macht der Volksvertretung müsse gestärkt werden. Die DDR brauche Parteien, die alle speziellen gesellschaftlichen Interessen repräsentieren. „Warum können wir uns nicht vorstellen, daß unsere CDU, die LDPD, die Nationaldemokratische Partei, unsere Bauernpartei jeweils einen ganz spezifischen eigenen Weg einschlagen?“ bekannte sich Reissig zu mehr Pluralismus. Niemand habe in der DDR mehr „ein Monopol auf die Wahrheit“. Die DDR müsse so gestaltet werden, „daß die Bürger sagen, das ist meine Heimat, hier fühle ich mich wohl, hier bleibe ich“. Dieser Diskussion wolle sich die SED stellen, wenn vielleicht auch in vielen Bereichen zu spät. So sehr die drei bundesdeutschen Politiker in Helmstedt auch Reformen in der DDR anmahnten, sie stießen nur auf offene Ohren. Professor Ersil verglich die gegenwärtige Situation in der DDR mit der 68er-Bewegung in der Bundesrepublik. Damals sei auch die BRD nicht frei von Konvulsionen und Anpassungsschwierigkeiten gewesen, sagte er. Grünen-Sprecher Helmut Lippelt forderte von den SED-Kadern „das Recht auf freie Wiedereinreise für alle, inklusive Wolf Biermann“. Darauf Reissig: „Es geht auch um die Möglichkeit der Rückkehr für diejenigen, die die DDR aus unterschiedlichsten Motiven verlassen haben.“

Der beim ZK für Wissenschaftlichen Sozialismus zuständige Institutsdirektor Reissig träumt von einer idealen DDR. Die ist eine sozialistische, demokratische und humane Alternative, die sich dem Wettbewerb stelle mit den anderen, den kapitalistischen Gesellschaften Europas. Grundlage eines europäischen Hauses sei die gemeinsame Anerkennung der Grenzen, der Nichteinmischung, der Menschenrechte und der Freizügigkeit. Dann könnten in einem pluralistischen Europa kapitalistische, sozialistische und liberale Gesellschaften miteinander kooperieren.

Im Anschluß an die Diskussionsrunde wollte Reissig auf Nachfragen von Journalisten hin auch Gruppen wie das Neue Forum nicht mehr von der offenen Diskussion über die Zukunft der DDR ausgeschlossen wissen. „Ein Dialog muß her, der alle einschließt, die sich in der DDR politisch artikulieren“, sagte der Institutsdirektor. Dieser Dialog solle nicht nur mit Einzelpersonen geführt werden, sondern „mit allen Parteien, mit allen gesellschaftlichen Gruppen, mit allen Institutionen und Betrieben.“ Auf die Frage, wieviele in der SED so denken wie er selbst, sagte Reissig selbstbewußt: „Ich glaube, das ist das Denken unserer Partei.“

Jürgen Voges