Demonstration gegen Rettungsmannschaften

Im kalifornischen Santa Cruz ging die Einkaufsstraße infolge des Erdbebens komplett zu Bruch / Strom- und Gasversorgung unterbrochen / Schlangen vor Geschäften und Tankstellen / Nationalgardisten schützen die Innenstadt vor Plünderern  ■  Aus Santa Cruz Gregor Freund

Viele haben noch mal Glück gehabt. Außer einigen Scherben und vielleicht einem eingestürzten Kamin hat das Erdbeben an den meisten der kleinen Familienhäuser kaum Schäden hinterlassen. Aber in der Haupteinkaufsstraße von Santa Cruz, der beschaulichen Universitätsstadt am Meer südlich von San Francisco, gibt es fast kein Gebäude, das nicht massive Schäden davongetragen hat. Ein Kaufhaus ist eingestürzt und hat mehrere Kunden und Angestellte unter sich begraben. Wie durch ein Wunder gab es nur zwei Tote. Wo einst ein Tabakladen stand, ist jetzt nur noch ein Trümmerfeld zu sehen. Die meisten Schaufenster in der Straße sind zerstört worden. Ein Wohnhaus ist wegen einer defekten Gasleitung in Flammen aufgegangen - ebenso vier weitere Häuser im nahegelegenen Watsonville. Die Strom- und Gasversorgung im Kreis ist zusammengebrochen.

Die ansonsten weitgehend verachteten Obdachlosen mit ihren kleinen batteriebetriebenen Radios sind plötzlich umringt von Neugierigen, die die letzten Meldungen erfahren wollen. Den ganzen Abend patrouillieren Hubschrauber mit starken Suchscheinwerfern, um Plünderer abzuschrecken. Erst um zwei Uhr morgens kehrt etwas Ruhe ein. Viele Leute hatten es wegen der häufigen Nachbeben vorgezogen, im Freien zu schlafen. Dann plötzlich um drei Uhr früh: ein Nachbeben, zwar „nur“ 4,7 auf der Richterskala, auf jeden Fall aber heftig genug, um den eben überstandenen Schrecken wieder aufleben zu lassen.

Am nächsten Morgen gibt es lange Schlangen vor den wenigen offenen Lebensmittel- und Getränkeläden. Einige Geschäfte berechnen bis zum Dreifachen des regulären Preises, während andere verderbliche Lebensmittel kostenlos an Bedürftige ausgeben. Erdbebengeschädigte packen ihr Hab und Gut auf kleine Lastwagen und versuchen, bei Freunden außerhalb des Katastrophengebiets unterzukommen. Benzin ist Mangelware, und die wenigen Tankstellen mit Notstromaggregaten haben bis zu drei Stunden Wartezeit. Und selbst mit Benzin ist es schwierig, die Gegend zu verlassen. Highway 17, der von Santa Cruz nach San Jose im Landesinnern führt, ist wegen eines Erdrutsches gesperrt, ebenso Highway 1, die Küstenstraße, an zwei Stellen wegen eingestürzter Brücken. Gegen Mittag wird nach und nach die Stromversorgung wieder hergestellt. Ein Haus fängt plötzlich wegen eines Kurzschlusses an zu brennen. Über der Innenstadt schwirren bis zu acht Fernseh-Hubschrauber gleichzeitig.

Im Laufe des Tages ändert sich das Bild. Nur wenige Rettungsmannschaften erreichen Santa Cruz, dafür um so mehr Polizei aus ganz Nordkalifornien. Nationalgardisten in Tarnuniformen bewachen die Absperrungen zur Innenstadt. Gegen Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, kommt es zu einer Demonstration. Die Leute empören sich darüber, daß die Rettungsarbeiten in der komplett zerstörten Kaffeerösterei für die Nacht eingestellt wurden, obwohl noch wenigstens eine Frau, Robin Diaz, unter den Trümmern vermutet wird. Die Rösterei war eine der beliebtesten Treffpunkte in Santa Cruz. Sie gab an viele Obdachlose kostenlosen Kaffee aus. „Wenn unter den Trümmern die Tochter des Einsatzleisters oder einer der Polizeichefs wäre, dann würde die ganze Nacht durchgearbeitet“, erregt sich eine Passantin.

In den Scheinwerfern der Fernsehteams ziehen die Demonstranten zu einer Polizeiabsperrung. Nach einigem Gerangel mit den Sicherheitskräften wird eine Delegation zum zuständigen Einsatzleiter vorgelassen. Auch sie erreichen nichts: Es sei zu gefährlich, in der Dunkelheit weiterzuarbeiten, da weitere Nachbeben befürchtet werden, die die noch stehenden Mauern zum Einsturz bringen könnten. Zudem sei die vermißte Frau mit großer Wahrscheinlichkeit tot, so der Einsatzleiter.

Die Lokalzeitung bringt um 20 Uhr eine Notausgabe heraus. Auf der Titelseite in Farbe eine schwerverletzte Frau, die von Passanten aus den Trümmern des eingestürzten Kaufhauses geborgen wurde. Ihr rechter Fuß hängt in einem grotesken Winkel zum Bein. Später, so die Bildunterschrift, wurde er amputiert. Einen Straßenzug weiter hat eines der schickeren Restaurants geöffnet. Unter offenem Himmel gibt es Krabben und Pilze, dazu kalifornischen Wein.

Die Demonstranten waren in der Zwischenzeit in die Nähe der eingestürzten Rösterei gezogen. Hinter der Absperrung können sie das Gelächter der Wachmannschaften hören, die es sich auf Campingstühlen bequem gemacht haben. Keinerlei Rettungsaktivitäten sind zu sehen. Viele der Demonstranten haben Kerzen mitgebracht und beginnen zu singen. Alle halbe Stunde rufen sie dreimal den Namen der vermißten Frau. Vielleicht ist sie ja doch noch am Leben dort unter den Trümmern.