Krenz: Mehr Kontinuität als Erneuerung

■ Die Antrittsrede des SED-Generalsekretärs war eine Mischung aus Floskeln, Versprechen und Beharrung

Eine Dreiviertelstunde durfte „das ewig lachende Gebiß“ (Wolf Biermann) sich gestern im DDR-Fernsehen ausbreiten, um viel Altbekanntes und wenig Perspektivisches zu bieten. Von einer Legalisierung der Oppositionsgruppen ist nicht die Rede.

Kontinuität und Erneuerung - die Sprachregelung, mit der die SED bislang ihren Dissens zur osteuropäischen Reformentwicklung zum Ausdruck brachte, bleibt weiter das Motto der Partei. Den Widerspruch, daß Krenz die Wende einzuleiten verspricht und zugleich an der überkommenen Formel festhält, pointiert der für Nuancen sensible Gorbatschow in seinem Glückwunschtelegramm: „Erneuerung und Kontinuität“, das ist seine Prioritätensetzung für einen Weg aus der Krise.

Dem hat Krenz in seiner Antrittsrede als Generalsekretär widersprochen - trotz harmonisierender Floskeln, moderateren Formulierungen als früher und deutlicher Kritik an der Leitung von Wirtschaft und Massenmedien. Was die Menschen in den letzten Wochen auf die Straßen trieb, bleibt auch in Zukunft politisches Grundprinzip: die uneingeschränkte Führungsrolle der Partei, ihre Anmaßung, für die ganze Gesellschaft zu sprechen, ihre Weigerung, andere als die von ihr dominierten gesellschaftlichen Organisationen an der künftigen Politik zu beteiligen.

Krenz im O-Ton: „Unsere marxistisch-leninistische Partei ist ein großer erfahrener Kampfbund. Sie hat immer an der Spitze der sozialistischen Revolution in unserem Lande gestanden und alle gesellschaftlichen Umwälzungen geführt. So wird es auch in Zukunft sein.„ Was sich ändern soll, kleidet Krenz in die unsäglichen Komparative der Parteischolastik. Da wird künftig mehr denn je verwirklicht, wird weiter vorwärtsgeschritten, noch besser ausgeschöpft und die Macht stetig besser genutzt.

Eine echte Neuheit immerhin ist es, wenn Krenz jetzt offen die Politbüroerklärung vom 11. Oktober, die als erstes vorsichtiges Wandlungssignal interpretiert werden kann, vor den Verdächtigungen des Volkes in Schutz nehmen muß: „Die Erklärung ist kein Papier der Taktik.“ Als nachgeschobene Konzession der Partei ans aufgebrachte Volk formuliert Krenz summarisch: „Fest steht, wir haben in den vergangenen Monaten die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Lande in ihrem Wesen nicht real genug eingeschätzt und nicht rechtzeitig die richtigen Schlußfolgerungen gezogen.„ Zwanghaft müssen die kritischen Töne aber wieder abgefedert werden: real, nur „nicht real genug, nicht rechtzeitig“, aber: Jetzt kommt die Wende.

Sündenböcke gefunden

Präzise Kritik übt Krenz nur an den Geschaßten. Immerhin geben die Passagen, die sich kritisch mit den bisherigen Aufgabenbereichen der abgelösten Joachim Herrmann und Günter Mittag beschäftigen, Aufschluß über die geplanten Änderungen bei der Leitung von Wirtschaft und Massenmedien. „Die Diskontinuität in der Produktion, die ungenügende Durchsetzung des Leistungsprinzips, die ungerechtfertigten Disproportionen zwischen Produktion und Warenangebot, die schleppende Verwertung wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse für die Produktion (...) und anderes mehr stehen auf der Tagesordnung der von uns zu lösenden Aufgaben.„ Noch vor wenigen Wochen hatte das 'Neue Deutschland‘ in einer wütenden Replik auf westliche Analysen all das als unbegründete Miesmacherei zurückgewiesen.

Analog in der Medienpolitik. Die Massenmedien haben dem Hang zu „Schönfärberei„ nicht widerstanden, haben sich „an Erfolgen berauscht„ und versucht, „die Kritik zu unterdrücken und sie durch Beschönigung und Lobhudelei zu ersetzen“. Folge dieser Medienpolitik, für die das verantwortliche Politbüromitglied Herrmann gekippt wurde, ist es, „daß die traditionelle Stärke unserer Partei, ihr Vertrauensverhältnis mit dem Volk, beeinträchtigt ist“. Doch auch hier scheinen die Empfehlungen nicht dazu angetan, den totalen Legitimationsverlust wettzumachen. Krenz weiß, wo die gesellschaftlichen Forderungen ansetzen: Öffentlichkeit, Partizipation, institutionalisierter Dialog, demokratischer Umbau der staatlichen Institutionen. Er macht Zugeständnisse, die die Kritik der letzten Wochen durchaus einbezieht: „Die sozialistische Gesellschaft braucht die Debatte.„ Viele Probleme wurden, so sagt er, in den letzten Wochen „beim Namen genannt„. Doch mit solchen Eingeständnissen nimmt Krenz nur Anlauf, um die gesellschaftlichen Forderungen zurückzuweisen.

Paternalistische Frechheit

Krenz‘ euphemistische Umschreibung der Tatsache, daß allabendlich Zehntausende für grundlegende Veränderungen demonstrieren und sich in oppositionellen Gruppen organisieren, ist nichts anderes als eine paternalistische Frechheit: „Wie sich zeigt, gewinnt die öffentliche Debatte auf der Suche nach den besten Lösungen für die weitere Ausgestaltung des Sozialismus in der DDR schnell an Substanz.„ Das wird wohl auch so bleiben, wenn Krenz auch in Zukunft die Auffassung vertritt, die Gesellschaft verfüge über genügend demokratische Foren für die unterschiedlichsten Interessen und Schichten des Volkes.

Demokratie, so die Botschaft an die aufgebrachte Bevölkerung, sollte „von niemandem als Freibrief für verantwortungsloses Handeln„ mißverstanden werden. Das Kriterium, das Krenz für das Zustandekommen des Dialogs ohne neue Foren - gibt, ist eindeutig: Der SED-definierte Sozialismus steht nicht zur Disposition.

Neue Töne, mit denen Krenz das Porzellan zu kitten sucht, das in den propagandistischen Kampagnen der letzten Wochen zerschlagen wurde, gibt es im Deutsch-deutschen. „Die Hand der DDR zur Zusammenarbeit im Interesse der Menschen und der europäischen Idee bleibt auch gegenüber der BRD ausgestreckt.„ Von gedeihlicher Zusammenarbeit, stabilen und langfristigen Beziehungen ist jetzt wieder die Rede, nachdem in der Politbüroerklärung im Zusammenhang mit der Ausreisewelle noch von „großdeutschen Träumen, altrevanchistischen und neofaschistischen Quellen, Demagogie und Abwerbung“ die Rede war.

Nachdem die Ablenkungsstrategie gescheitert ist, verspricht Krenz jetzt die rückhaltlose Erforschung der Ausreiseursachen, „die in unserem Land entstanden sind“. Als Kompensation bietet er Zurücknahme beziehungsweise Modifizierung der Reiseeinschränkungen ins sozialistische Ausland und neue gesetzliche Regelungen für Westreisen.

Solche Kleinstkorrekturen, mit denen zum Teil nur der Zustand vor der jüngsten Verhärtung wiederhergestellt wird, werden zur Befriedung der Gesellschaft nicht ausreichen. Krenz wird mit dem Versuch, die Partei in die Offensive zu bringen, ohne grundlegende Reformschritte anzugeben, scheitern. Die Demonstranten werden den Sturz Honeckers ihrem Engagement zuschreiben und - beflügelt von diesem Erfolg - weiter auf echten Änderungen bestehen. „Die neuen Positionen auf unserem sozialistischen Kurs“, die Krenz schon abgesteckt zu haben glaubt, stehen noch aus. Ein bißchen Glasnost - das haben alle bisherigen Erfahrungen bei der Reform der sozialistischen Länder gezeigt - läuft nicht. Die halben Zugeständnisse forcieren nur die gesellschaftliche Dynamik für eine neue Politik. Das Gorbatschow-Wort zum 40.Geburtstag gilt auch nach Krenz‘ mißglücktem Antritt: Wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt, wird vom Leben bestraft.

Matthias Geis