MAGDEBURGER BÜRDE

■ Wirtschaftsfaktor Übersiedler im gastronomischen Bereich

Nicht zuletzt in der Vielfalt nationaler Spezialitätenrestaurants drückt sich das beliebte multikulturelle Sein aus. So kann man in West-Berlin fremdländische Küche alphabetisch herunterdinieren - von A wie „Afghanistan“ bis Z wie „Zypern“. Unter D finden wir neben „Dänemark“ seit dieser Woche als eine weitere Geschmacksknospenstimulanz „DDR“.

Nicht gerade in der glücklichsten Lage eröffnete in der Pallasstraße die „Magdeburger Börde“. „Diesen Namen habe ich schließlich nicht von ungefähr gewählt“, erklärt Gerhard Rakowksi, der quirlige Wirt, sein gastronomisches Konzept in kultiviertem Sächsisch bereits am Telefon. „Die Magdeburger Börde, das Mitropa-Restaurant auf der Transitstrecke Berlin-Hannover, ist schließlich die bekannteste Begegnungsstätte zwischen Ost- und Westdeutschen. Und das soll hier auch so sein. Wenn Sie heute abend kommen, parken Sie einfach in der zweiten Reihe und gehen gleich nach vorne durch. Sie kommen dann gleich dran.“

Ich stoppe also den Wagen vor dem Restauranteingang, wie mir geheißen. Ein Verwandter von Lech Walesa in grauer Phantasieuniform preußischen Zuschnitts öffnet uns die Wagentür, drückt mir eine Garderobenmarke mit der Nummer vier in die Hand und gibt Gas - sichtlich erfreut, marodes Blech mit 180 PS um die nächste Straßenecke jagen zu können.

Einmal so vom Lauf der Dinge dominiert, befolgen wir auch die nächste Anweisung und gehen einfach an einer vor der Tür offensichtlich wartenden sechsköpfigen Menschenschlange vorbei. „Sie hatten reserviert?“, fragt der Patron, dessen Dialekt ich auf Anhieb wiedererkenne, etwas gereizt. Ich bejahe und darf dafür zwischen zwei Unbekannten wählen: „Möchten Sie entre-nous oder menue-complet?“ Da es nicht entre-vous hieß, entscheiden wir uns fürs menue-complet.

Wir schreiten über rostrosa Linoleum und durchqueren einen Tresenraum mit blaßgrün gestrichenen Nut- und Feder-Brettern an den Wänden. Die Holztische sind gescheuert und haben eine kleine weiße Decke aufliegen, die von einer winzigen Blumenvase mit Nelke und etwas Grün zentriert wird. Für den Sitzkomfort der Gäste sorgen heftig gemusterte und unüppige Kissen auf lehnenlosen Stühlen. An zwei Tischen wird gegessen.

„Um Ihren Wagen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen“, plaudert mich der Wirt an. „Das erste, was ich hier als Problem und Marktlücke erkannt habe - die Parkplätze. Wie kann man essen, wenn man seinen Wagen nicht los wird? Also habe ich einen Chasseur eingestellt. Ein Pole. Ich nehme dafür nur Polen. Die haben vernünftige Lohnforderungen. Außerdem sind das die einzigen, die Ostwagen genausogut fahren können wie Westwagen.“

„Das verstehe ich nicht“, gestehe ich unumwunden.

„Sie müssen die Entwicklung sehen“, erklärt er. „Ich rechne damit, daß ein gewisses Klientel sich den Trabi demnächst als Drittwagen halten wird. Authentisch fahren, stilvoll speisen. - Möchten Sie einen Aperitif? Zwei Glas Rotkäppchen?“

Wir sind an „unserem“ Tisch angekommen. In einem Raum mit prächtigem Kristallüster, Art-deco-Spiegeln der siebziger Jahre, Brokattapeten (rosa), gerafften Tüllgardinen vor Aralien, Polstermöbeln (mit Armlehne), Marke Polsterbär, gestärkten Tischdecken (bleu), Salzstangen -/Salzbrezelhaltern (Chrom), Bischofshutservietten und original verbiegungs-non-resistentem Leichtmetallbesteck. Beeindruckend. Nur, daß an unserem Tisch bereits zwei Personen sitzen.

Die Kapazität an einem anderen Vierer-Tisch ist mit vier Personen ebenfalls 100prozentig ausgelastet. Alle anderen sechs Tische sind unbesetzt. Wie ich es auf meinen DDR -Auslandsreisen gelernt habe, stelle ich die Situation unseren Tischgefährten gegenüber ins rechte Licht. „Entschuldigen Sie, wir sind hier hergesetzt worden.“ Der Gastgeber ist inzwischen mit unserer Sektbestellung abgeschwirrt. Routiniert jovial nickt uns die männliche Hälfte des Pärchens zur Tischteilung einladend zu. Profis, wie sich herausstellen sollte: Den ganzen Abend über sind wir, jeder für sich, für uns.

Ein Kellner im schwarzen Anzug bringt die Karte und die Rotkäppchen. Die Spanne von zwei Minuten erachtet er für uns als ausreichend, die Wahl auf der kleinen, aber feinen Karte zwischen Soljanka oben und Vanillepudding mit Kirschsauce unten zu treffen. Dazwischen liegen Rumpsteak Hawaii mit Ananas, Piemontkirsche, Leipziger Allerlei, Champignoncreme und Salzkartoffeln im Bereich des Aufwendigen und Broiler pur mit Graubrot im Unprätentiösen.

„Ich bedaure, aber Rumpsteak Hawaii ist aus“, informiert uns der Kellner, weltläufig über mich hinweg in den Wandspiegel blickend, in welchem er seine hart -sozialistische Reflektion des „Traumschiff„-Kellnertums kritisch überprüft. Da Sauerbraten und Gulasch ebenfalls aus sind, fällt die Wahl auf Gulaschsuppe, Soljanka, Rumpsteak mit Zwiebelringen und Schweinelendchen in Rahmsauce. Dazu eine Flasche Elbling. Hinterher Früchtecocktail solo und Apfelmus mit Vanillesauce.

Während wir schweigend eine halbe Stunde auf unsere Suppen warten, füllt sich das Restaurant Stuhl für Stuhl. Verwaschene Jeansanzüge feiern ihr modisches Comeback. Sind alle Stühle an einem Tisch besetzt, wird der nächste Tisch freigegeben.

Der Unterschied zwischen Gulaschsuppe und Soljanka im ausrangierten Krankenhausgeschirr besteht in ordentlich verkochtem Schweinefleisch in sämigem Sud mit Fettaugen und nicht ganz so ordentlich verkochtem Schweinefleisch in sämigem Sud mit Fettaugen. Erinnerungen an das Messerestaurant in Leipzig werden wach.

„Weißt du noch, damals, am Strand von Rügen, das Ausflugslokal, wo wir nach einer Stunde einen Tisch hatten“, flüstert mir meine Begleiterin über ihr Rumpsteak mit gekochten Zwiebeln und Bratkartoffelbrei zu. Ich stoße meine Gabel durch den festen Rand meiner Warmhaltesalzkartoffel ins butterweiche Innere und entsinne mich sofort: Auch damals lagen meine Schweinelendchen zusammen mit den Erbsen unter der Mehlrahmsauce, neben den liebevoll in Schinkenspeckröllchen eingewickelten, durchaus garen Böhnchen. Und was für ein Glück wir mit dem Wetter hatten, damals auf Rügen.

„Möchten Sie Ihre Karte dazuheften, oder sollen wir Ihren Namen darunterschreiben“, fragt der Kellner, während er abserviert. Ich schaue ihn verständnislos an. „Wir planen eine kleine Ausstellung. Zunächst nur die Gabeln. Und davon nur die interessanten Biegearbeiten. Selbstverständlich werden sie vorher abgewaschen.“

Sorge steigt in mir hoch, daß die „Magdeburger Börde“ mit ihrer eat-art-Idee demnächst auch zu einem Zeitgeist -Restaurant werden könnte. Doch Früchtecocktail solo und Apfelmus mit Vanillesauce beweisen, daß der Integrationswilligkeit des Küchenchefs bewußt Grenzen gesetzt sind: Alles frisch auf den Tisch muß nicht sein. Konservendosen garantieren saisonale Unabhängigkeit bei gleichbleibender Qualität.

Da nun auch der letzte Stuhl besetzt ist und andere Menschen ebenfalls ein Anrecht auf einen gefüllten Magen haben, bitte ich um die Rechnung. Sie kommt in einem ausgehöhlten blauen Buch von Karl Marx: Kapital I. Summa summarum 143,50 DM plus 8 DM Parkgebühr.

„Entschuldigen Sie“, verabschiede ich mich beim Patron, „was ist bitte der Unterschied zwischen 'entre-nous‘ und 'menue-complet‘?“ Er nimmt mich am Arm und geleitet mich zum Wagen. „Sehen Sie“, sagt er, „wir rekonstruieren die freie Mischform auf authentischer Grundlage. Es beginnt mit einer Schlange vor der Tür. Das gehört sich einfach für ein DDR -Restaurant. Einfach so. Natürlich lasse ich meine Gäste nicht im Regen stehen. Keiner muß länger als fünf Minuten warten, und demnächst lasse ich auch einen Baldachin montieren, wie vorm Kempinski, bloß in Rot. Die Gäste nun unterteilen sich in drei Gruppen: die Alt-Westler und die Neu-Westler. Die Alt-Westler finden dieses DDR-Ambiente irgendwie chic und können wählen zwischen hinten oder vorne. Die Neu-Westler fühlen sich in so interessiertem, aufmerksamem Verständnis irgendwie aufgehoben. Sie können ihre Tischgesellschaft wählen zwischen Alt-Westlern mit gediegenem Authentizitätsanspruch und aufstrebenden Neu -Westlern auf der einen Seite - 'menue-complet‘ - hinten, sowie ost-authentisch interessierten Alt-Westlern und nostalgisch orientierten Neu-Westlern - 'entre-nous‘ vorne.“

„Also ißt chic-chic-upward hinten und der DDR-Bürger mit Heimweh in der freien Gesellschaft vorne.“

„C'est ?a. Und beiderorts das gleiche Essen. Vorne Gulasch: 6,73 DM. Hinten Gulasch: 22 DM. Vorne wie hinten gleich. Schließlich haben wir die klassenlose Gesellschaft in gewisser Hinsicht überwunden.“

„Und die dritte Kategorie?“, frage ich.

„Das sind die Leute, die reservieren oder reservieren lassen. Leute wie Sie.“

Der polnische Chasseur wollte nicht nur die Garderobenmarke, er bekam auch noch ein ordentliches Trinkgeld.

O.W. Lieb