Wo der Maiskolb'wogt

Im goldenen Schweinedreieck von Westfalen  ■ Cletus Ossing

Hier kommt man mit Kennzeichen aus dem nördlichen Ruhrpott (“Sach' ma Gällsnkiechchchen!), um die „Natur“ und die „frische Landluft“ zu genießen. Hier hat Kowalski sein Wochenendhäusken oder wenigstens den fest verankerten Wohnwagen, und hier geht er Brombeeren pflücken. Das Gebiet nördlich vom Ruhrgebiet und westlich von Münster ist der Inbegriff von Westfalen. Alles, was sich assoziativ mit dem Plattland verbindet, ist hier zu verorten: die Eiche, der Schinken, die sturen Ureinwohner, bildschöne Wasserschlösser ebenso wie, ja, wie was? Wogende Ährenfelder? Gemütliche Kühe auf saftigen Wiesen? Schauriges Moor?

Nein, wer idyllischen Naturkitsch in dieser Gegend sucht, wird zwar gut bedient, denn Fremdenverkehr ist hier kein Fremdwort. Sucht hier aber jemand noch nach Annette von Droste-Hülshoffs Vermächtnis, hat er sicher nicht ganz kapiert, wo er sich befindet. Hier wird hochmoderne Intensivlandwirtschaft betrieben, und das hat Land und Leute in den letzten Jahrzehnten gehörig verändert. Von Mais und Schwein

Früher war es so, daß die tatsächlich frische Luft auf dem Land häufig mal durch den Duftstreifen eines veritablen Misthaufens durchzogen wurde, heute dagegen liegt über diesem gesegneten Teil Westfalens, dem goldenen Schweinedreieck, ein penetranter und beständiger Gestank, der nicht mehr von Misthaufen, sondern von wahren Strömen von Gülle stammt. Der Mist wird nicht mehr zum Düngen auf die Äcker kutschiert, sondern die Äcker dienen als Entsorgungsflächen für den ganzen Scheiß, was eine totale Überdüngung und absurd hohe Nitratwerte im Grundwasser der Region zur Folge hat.

Den Landwirt, der die Scholle beackerte, am besten im überlieferten Fruchtwechsel, der, sonntags spazierengehend, den Rain seiner Roggenfelder abschritt, Kühe molk, Hühner hielt, den multiplen Ackerbauern, den gibt es nur noch als touristische Fiktion. Er hat sich in den Schweinebaron verwandelt, dessen idealer Lebenszweck Borstenvieh und Schweinespeck oder wahlweise die Rindviehzucht ist; die Massentierhaltung mit allen zum Himmel stinkenden Konsequenzen, das ist hier angesagt. Et olet!

Gelb sind schon die Stoppelfelder? Die sind graubraun, weil es keine Roggen- oder Haferstoppeln, sondern Maisstoppeln sind, die da noch im Boden stecken; wer hier zum Drachensteigenlassen drüberrennen will, fliegt ziemlich schnell auf die Schnauze. Der Mais hat überall den übrigen Getreideanbau ins zweite Glied verdrängt; Mais ist das Futtergetreide für das Viehzeug in den Großställen; Mais ist zugleich die Pflanze, die den Boden am gründlichsten auslaugt – da hilft eben auch das Auskippen der Seen von Gülle nicht. Weideland als Restfläche

Natürlich gibt es noch die sanft aus dicht bewimperten Augen guckenden Kühe, die einem, mild mit dem Unterkiefer mahlend, hinterhersehen, wenn man einen immer noch hagebuttengesäumten Feldweg entlanggeht. Es sind dies aber weniger Milchkühe als Zuchtvieh. Auch Pferde sind häufig zu finden, teils aufgeregt-übermütig galoppierend, teils ruhig grasend auf der Weide. Aber es sind Reitpferde, Freizeittiere, keine Ackergäule, und die Weiden sind auch eher Restbestand einer ehemals viel größeren Grasfläche.

Eine Kuhweide ist ein über ein Jahrhundert gewachsenes Stück Landschaft. In Großbritannien gab es gegen 1943 einen beträchtlichen Rabbatz der Bauern gegen die kriegsbedingte Maßnahme, Weiden umzupflügen und Äcker für Lebensmittel daraus zu machen, weil das Umpflügen eben irreversibel ist. Westfalens Bauern holen die Rindviecher von der Weide in die Intensivmast, die Weide wird zum Maisfeld, der Mais zu Schwein, das Schwein zum Kotelett. So verschwindet fürs tägliche Fleisch nicht nur der tropische Regenwald, so ist auch eine ganze Kulturlandschaft vor der Haustür verschwunden, hat sich in Gestank und Nitrat aufgelöst. Wenn Kowalski aus grauer Städte Mauern ins weite Feld zieht, sieht er alles andere als „Natur“: Er sieht eine ebenso industriell genutzte Fläche wie in Bottrop – sie sieht nur anders aus. Testosteron und Salbutamol

Es ist erstaunlich, wie steinalt hier fast jedes Kuhkaff ist: „Metelen feiert sein 1.100jähriges Bestehen.“ Wer kennt aber schon Metelen? Dieses Stück Erde, so alt wie es ist, lag immer abseits der Weltgeschichte. Der große Deutsche Bauernkrieg? Ein paar kleinere Aufstände, die größere Schlägerei fand mehr in Mittel- und Süddeutschland statt. Aufmüpfige Leute wie die Wiedertäufer in Münster wurden kurzerhand abgemurkst; Coesfeld hält, wenn ich richtig informiert bin, den Weltrekord im Hexenverbrennen. Im Dreißigjährigen Krieg gab es bei Stadtlohn eine Schlacht (Tilly gegen Christian v. Braunschweig, 1:0), aber ansonsten war und ist in diesem Teil der niederrheinischen Bucht eher Gemächlichkeit angesagt. Das aber ist trügerisch, denn, wie bereits gesagt, landwirtschaftlich gesehen, ist das hier ein industrielles Zentrum.

Klar kennt kaum jemand Metelen, aber Namen wie Südlohn, Ramsdorf und Schöppingen kommen zeitungslesenden Menschen irgendwie bekannt vor: Hier werden die Ben-Johnson-Kälber gemacht, genau. Bauernführer Freiherr von Heeremann hat zwar sofort wieder gesagt, diese Kälbermäster seien einige wenige schwarze Schafe, aber das hat er im vorigen Jahr bei gleicher Gelegenheit an gleicher Stelle auch schon gemacht, und glauben tut's eh keiner. Außer Kowalski weiß ja auch jeder hier, daß der Bauer für den Eigenbedarf sein Schwein Jolanthe durchaus ökologisch pflegt und mästet, hingegen Jolanthes Stallgefährtinnen mehr industriell-finanziell betrachtet.

Wenn Kowalski am Wochenende am Bauernhof vorbeiradelt und dort echte Schweine in richtigem Matsch schnüffeln sieht, kann er so gut wie sicher sein, daß er so was nie auf den Teller kriegt. Nun gut, das werden die Bauern in anderen Teilen der Republik sicher auch nicht anders halten, aber hier im Hormon-Delta stehen die Viehmäster unter direktem Konkurrenzdruck der gleich nebenan produzierenden Holländer, die ihr Viehzeugs mit noch viel tolleren Sachen dopen. Selbst wenn der einzelne Landwirt wollte, könnte er sich dem Zwang der Konkurrenz nicht entziehen: Schnell muß die Sau wachsen und möglichst fettfrei, wie die Hausfrau es dem Metzger sagt. Zurück zur Natur

Rotgelbe Buchen, Marienstandbilder mit Herbstblumen, gelb gewordene Silberpappeln, die knorrig in den Himmel ragen, schwarz im Morgennebel stehende Kopfweiden, kleine, ruhig fließende Bäche, eingerahmt von bunt beblätterten Hecken, Dorfkirchen, die ebenso alt wie klein sind, all das gibt es hier natürlich auch, und es lohnt auch sehr das Hinsehen. Es hat aber den gleichen Charakter, den ein unter Denkmalschutz stehendes Gebäude in einer Großstadt hat: Reste von alter Kultur und Natur inmitten einer industriellen Umgebung.

Nach jahrelangen Kämpfen von Naturschützern und Grünen werden mittlerweile Versuche unternommen, die übrig gebliebenen Stücke Moor zu erhalten, Wallhecken neu zu pflanzen, die letzten alten Obstbäume zu schützen. Aber damit wird nicht die alte Kulturlandschaft wiederhergestellt, sondern eine neue geschaffen: die der Freizeit. Großstädter, die aufs Land kommen, wollen wenigstens eine halb intakte Natur, und sei's auch nur der Illusion wegen. Bauern kriegen deshalb staatlicherseits Prämien, wenn sie Teile ihres Grundbesitzes brach liegen lassen. Und der Roßbesitzer schützt dadurch die letzten Weiden vor dem Umpflügen, daß er dem Bauern sein Pferd zum Aufbewahren gibt, im Sommer auf der Wiese, im Winter im Stall. Landwirtschaft ist heute Teil der (bezahlten) Freizeitgestaltung.

Ein wahnwitziger Kreislauf überhaupt: Gut drei Jahrhunderte lang war die Landwirtschaft als Dreifelderwirtschaft bei ihrer Umgestaltung der Landschaft im Einklang mit der Natur. Die letzten 40 Jahre haben durch ex- und intensive Agrikultur, durch Schweinerei und Rindvieh zu unübersehbaren Zerstörungen geführt, und jetzt, ausgelöst durch Kowalski und seine Kumpels und durch die Freizeit-Schockemöhles, wird versucht, wenigstens den Rest zu retten. Nu, denn men tau!