Island - die Frauen, der Fisch und die Freiheit von unserer Gleichheit

■ Im „sagenhaften äußersten Norden“ ist nicht nur die Landschaft bemerkenswert, sondern auch die Politik / Feminismus und Naturschutz sind ihre Hauptdeterminanten

Uta Ruge

Aus der Vogelperspektive sieht es so aus: Drei Flugstunden nördlich von London, die schottische Küste fünfhundert Kilometer hinter sich gelassen, kommt die Reisende in ein Land, das siebenhundert Jahre Kolonialdasein überstanden hat, und dennoch existiert hier die älteste Sprache Europas. Tausend Jahre ist sie fast unverändert geblieben. Ultima Thule - der sagenhaft äußerste Norden. Sein bürgerlicher Name ist Island. An der Spitze des Landes steht eine Frau, und ein Zehntel der Abgeordnetenplätze im Parlament sind von Feministinnen besetzt.

Wer endlich auf dem einzigen internationalen Flughafen der Inselrepublik gelandet ist, steht sogleich auf dem Boden eines Militärstützpunktes der Nato, bemannt von dreitausend amerikanischen Soldaten und ausgerüstet mit sensiblem Gerät

-zur Weltraum- und Ozeankontrolle.

Zwar ist für den zivilen Betrieb vor zwei Jahren eine seperate Abfertigungshalle gebaut worden, um den Flughafen von der anrüchigen Nachbarschaft abzurücken, der Name aber bringt es an den Tag: Stützpunkt und Flughafen heißen „Keflavik“. Und „Keflavik“ ist die „Atomstation“ in Halldor Laxness‘ gleichnamigem Buch von 1948, um die sich Ende der vierziger Jahre ganz Island in die Haare kriegte. Sollte Island sich dann wirklich nach einer so läppisch kurzen Zeit der Unabhängigkeit (1944) von Dänemark wieder in die Hände fremder Kriegsfürsten begeben? Was hätten Skarpheoinn oder Grettir getan, die Helden der alten Sagas? - Auch sie haben manchmal verhandelt und sich den Stärken gebeugt, sie dann jedoch listig als Mittel für die eigenen Zwecke benutzt, sagen die Befürworter hinter vorgehaltener Hand. Offiziell hieß es, Island, ein Land ohne Armee, könne sich gegen Angreifer aus dem Osten nicht verteidigen. Seine Lage sei militärstrategisch von allzugroßer Bedeutung, als daß man es mit Neutralität versuchen könne.

Der Kalte Krieg hatte begonnen. Und so wurde ein vom Weltkrieg unberührtes Stückchen Europa nachhaltig und dauerhaft in die Arena des Ostwestkonfliktes hineingezogen.

Island ist dann, wie so manches andere Land im Westen, per Marshall-Plan zu einer modernen Nachkriegsgesellschaft hochgepäppelt worden. Seine Fischfangflotte rüstete sich für Rekordfänge, seine Landwirtschaft für nie dagewesene Erträge an Milch und Fleisch.

Umweltpolitik als Folge

der Frauenpolitik

Das Resultat konnte sich sehen lassen und hat schließlich die Nordländer davon überzeugt, daß auch ihr Land im Westen liegt und daß es sich im Westen gut leben läßt - trotz unwirtlicher Natur und einer winzigen Bevölkerung von 250.000 Menschen.

Ingibjörg Hafstad führt uns herum: zu den Abgeordneten der isländischen Frauenliste Kvennalistinn, zur Schriftstellerin Frieda Sigurdardottir, der Fischarbeiterin Stella Hauksdottir, zu Kraftwerk und Psoriasisheilbad „Blaue Lagune“, vorbei an baumloser Lavalandschaft. Ingibjörg weiß alles über Island.

Seit acht Jahren macht sie Politik, hat den Frauenstreik von 1975 mitorganisiert, dann sechs Jahre später die Frauenliste, die Wahlkämpfe und die Koalitionsverhandlungen, und schließlich die Entscheidung zur Oppositionspolitik mitgetragen. Ihr Credo ist feministisch. Doch sie weiß, daß der Frauenliste nur wegen der Positionen zur Umwelt- und Friedenspolitik viele Wählerstimmen zugefallen sind. Für Ingibjörg ist Umweltpolitik selbstverständliche Konsequenz der Frauenpolitik. Als einen der ersten Grundsätze lernen wir über die Kvennalistinn, daß bei jeder Regierungsmaßnahe und Entscheidung - egal, ob es um Fischindustrie, Militärstützpunkt oder Kraftwerkausbau geht - drei Grundfragen gestellt werden: „Was bedeutet es für die Frauen? Was für die Kinder? Was für die Natur?“

Während uns zwei Abgeordnete der Frauenliste nach einem Mittagessen im Parlamentsrestaurant durch Gänge und Sitzungssäle des Allthing führen, komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Weit und breit sind keine Sicherheitsbeamten oder Polizisten zu sehen. Ich fühle mich in ein Stadttheater oder ein gediegenes Kleinstadthotel versetzt: schwere Sessel im Foyer und Ölgemälde an den Wänden. Ein freundlicher Herr mittleren Alters, der auf einem Stuhl direkt am Eingang sitzt, senkt bei unserem Eintritt nur ein wenig seine Morgenzeitung. Da wir in Begleitung sind, erübrigt sich offenbar jede Frage. Er begrüßt, wie es hier üblich ist, die Frauen mit ihren Vornamen und lächelt melancholisch. Ich begreife schnell, daß zum Erfolg der Frauen auch die Intimität und Durchlässigkeit einer kleinen Gesellschaft beigetragen hat, deren ziviler Konsens sich aus jahrhundertelanger Abwehr einer Kolonialmacht nähren konnte.

Männer spielen zwischen Aktenschränkten und Fließbändern mit Kindern

Die Sitzungssäle riechen nach altem Holz und Leder, und in der gediegenen möblierten Lobby-Rotunde kann man die von Raissa und Michail Gorbatschow zum Gipfel von 1986 mitgebrachte Vase bewundern. Nach dieser fast familiären Besichtigung ziehe ich mich mit Danfridur Skarphedinsdottir in ein Nebengebäude zum Interview zurück. Die Atmosphäre eines unaufgeregten Pragmatismus‘, die hier alles durchzieht, läßt kaum noch ein Gefühl von etwas Sensationellem in mir aufkommen - und dabei ist die Geschichte, von der sie erzählt, sensationell genug.

Am 24.Oktober 1975 nämlich gingen 25.000 Frauen in Reykjavik auf die Straße. Es war die größte Demonstation in der Geschichte Islands, und sie dauerte von morgens bis abends. In Wirklichkeit war es ein Streik, der sich zu einem Generalstreik ausweitete, da die Männer mit den Kindern zur Arbeit gehen mußten. Kindergärten waren geschlossen, und die Großmütter und Tanten vom Lande, die gern als Nothilfen für Notstände herbeitelefoniert werden, waren auch nicht erreichbar, da die Frauen des handvermittelten Telefonverkehrs ebenfalls streikten. Am Abend zeigt das Fernsehen ungewohnte Bilder aus Büros und Fabrikhallen: Männer spielen zwischen Aktenschränken und Fließbändern mit ihren Kindern. Restaurants und Cafes der Hauptstadt sind derweil überfüllt mit Frauen, die auswärts essen. Ihr Streik soll alles betreffen, auch die abendlichen Haushalts- und Zubettbringstunden, die ganze unsichtbare Arbeit von Frauen, deren Funktionieren die Gesellschaft - und ihre Ökonomie voraussetzt, die jedoch weder bezahlt noch sonst groß zur Kenntnis genommen wird.

Das war der Auftakt zur Uno-Dekade der Frau in Island, und zum Abschluß wurde der Streik 1985 wiederholt. Inzwischen aber war einiges passiert: Eine autonome Frauenliste hatte sich 1982 an den Kommunalwahlen beteiligt und je zwei Sitze in Reykjavik und Akureyi gewonnen; 1983 nahmen die Kvennalistinn das erste Mal an den nationalen Wahlen teil, errangen dabei drei Mandate und verdoppelten dies Ergebnis bei der nächsten Wahl von 1987.

Zweimal wurden die Abgeordneten der Kvennalistinn als Mehrheitsbeschaffer schon zu Koalitionsverhandlungen eingeladen, beidemale begnügten sie sich lieber mit der Oppositionsbank, da ihre Grundforderungen, die Einführung eines Mindestlohnes für Arbeiterinnen der Fischverarbeitungsindustrie und der sofortige Stopp des Ausbaus des zivilen und militärischen Flughafens Keflavik, abgelehnt wurden.

Fischfangquoten nicht für die Trawlerbosse, sondern für die Kommunen

Eine der populärsten Forderungen der Frauen war im Bereich der Ökonomie die Veränderung des Quotensystems im Fischfang. Sie schlugen vor, daß nicht den Trawlern - und damit ihren Besitzern - die Fischfangquoten zugesprochen werden sollten, sondern statt dessen den Kommunen. In den kleinen Küstenstädten nämlich, in denen der Fisch verarbeitet wird, verbreitet sich zusehends die Arbeitslosigkeit, da die Schiffseigner den Fisch zunehmend an Bord verarbeiten lassen und ihn dann direkt nach USA, Norwegen und Dänemark exportieren. Ihre Gewinnspanne hat sich damit trotz Quotenbegrenzung erhöht, während mehr und mehr Fischverarbeitungsbetriebe schließen mußten und in den kleinen Städten, die keinerlei Arbeitsplatzalternativen bieten, arbeitslose Frauen zurückbleiben.

Dieser Vorschlag hat für heftige Diskussionen gesorgt. Die Schiffseigner - zumeist auch Besitzer von Verarbeitungsbetrieben - halten sich traditionell für das Rückgrat der Inselökonomie. Eine Ahnung davon, daß das eigentliche Rückgrat die Fischgründe - die keinem gehören und die Fischer und Arbeiterinnen selbst sind, hat die Leute erfaßt, und die Regierung hat alle Mühe, mit großen Wortbannern wedelnd die Menschen an ihre Plätze zurückzuscheuchen.

Was das für ein Gefühl sei, so plötzlich in der Nähe der Macht zu sitzen, frage ich Danfridur. Sie sieht mich ruhig an und sagt: „Ja, im Parlament sind wir. Nur habe ich nicht das Gefühl, daß dort noch viel Macht liegt.“

Fisch esse ich in Island kaum. Überhaupt wird das Essen zum Problem - vielmehr die Preise. Die Inflationsrate im sagenhaften Norden liegt bereits in den ersten sieben Monaten des Jahres bei 15,8 Prozent, trotz einer insgesamt 7,8prozentigen offiziellen Abwertung der isländischen Krone.

So kommt es, daß ich mir selbst in Imbißbuden das Essen fast nicht leisten kann. Ein Hamburger kostet acht Mark, eine Portion Pommes Frittes ist auch nicht viel billiger, und der kleine Pappbecher Kakao, mit dem ich mich von Sturm, Regen und durchnäßten Schuhen entnervt aufwärme, kostet stolze vier Mark. Nach langem abendlichen Suchen mit hungrigem Magen lande ich samt Fotografin schließlich in einem indischen Restaurant und sortiere die ersten Eindrücke von Island.

Nach dem Zähneputzen mit schweflig-schmeckendem Wasser in der kleinen Frühstückspension stopfen wir mehrere Teller Cornflakes mit viel Milch und Joghurt in uns hinein und schmieren nebenbei möglichst unauffällig Stullen für den Tag.

Aus den Augenwinkeln sehe ich dabei täglich mit wachsendem Befremden, wie sich ein anderer Gast von seiner Frau das Essen vom Buffet mitbringen und den Kaffee einschenken läßt. - Ach, unsere unausrottbare Hoffnung auf das ganz Andere, zum Beispiel einen kleinen Inselstaat, in der es keiner Frau mehr einfallen würde, einem Mann das Brot zu belegen... und in dem deshalb Natostützpunkt und Walfang, Überfischung der Meere und industrielle Landwirtschaft augenblicklich zu existieren aufhörten...

Martialische Werbung für Island bei zehn Prozent feministischen Wählern

Immerhin aber gibt es hier ja ein Potential für feministische Politik, das zehn Prozent der Bevölkerung ausmachte. Mehrkwürdig eigentlich, denn unübersehbar ist, wie männlich das Wikinger- und Abenteuerimage Islands für den Fremdenverkehr ist, wie martialisch der Anblick seiner landroverbevölkerten Straßen und seiner vom Herrscherfernblick gekennzeichneten Gründer- und Seefahrerdenkmäler auf den öffentlichen Plätzen.

Woher also rührt diese andere Seite? Welche Geschichte der Geschlechterbeziehungen - oder anderem - liegt dem zugrunde?

Eine Erklärung aus unerwarteter Richtung drängt sich mir durch die Landschaft selbst auf.

Schon von jeder kleinen Erhebung in Reykjavik oder vom Hafen der Stadt aus sind die umliegenden Berge zu sehen. Schwarz und grau, höchstens am Fuß grünlich gelb eingefärbt, steigen sie wie Rücken großer Wassertiere aus dem Meer. Ruhelos ziehende Wolken entfalten in heftigem Spiel mit Wasser und Sonnenlicht sich beständig auflösende und wieder neu bildende Licht- und Strahlenmuster über Bucht und Stadt. Fast täglich steigen Regenbogen in der Ferne aus dem Wasser auf und treffen in hohem Schwung auf Bergrücken und Lavafelder oder tauchen wieder ins Meer. Oft ist der Himmel grau und wie vermauert von schweren Wolkenbänken, alle Farben erloschen und stumpf, aber ebenso oft und nach kürzester Zeit strahlt wieder irgendwo ein Lichtfeld auf, gelbweiß neben schwärzestem Gewölk, und die Luft ist dabei von einer nirgendwo sonst erlebten Klarheit, ein Spiegelmaterial aus ungreifbaren Licht- und Wasserteilen.

Dieses Schauspiel nun breitet sich auch über das übrige Land aus, seine baumlose Weite, seine grau in grau daliegenden Lavafelder, die von schwarzen Tuff- und Bimssteinstraßen durchzogen sind, seine schneebedeckten Gipfel, Gletscher, erloschenen Krater, seine sich breit und weitläufig schlängelnden Flüsse und Seen.

Der große Touristenbus scheppert durch Schlaglöcher, die nach schweren Unwettern immer wieder entstehen, vorbei an ganz wenigen, einzeln und ohne Baumschutz dastehenden Höfen, an Geröllhalden, an herbstlich gelbgefärbtem Weideland, an dessen schwarzgrundierten Rändern sich kleine, urtümliche Pferde, Schafe und Kühe drängen. Weiße Dampfwolken steigen ein Stückchen steil in die Luft, werden vom Wind zerrissen und verschwinden: Dampf aus heißen Quellen, der mal unmittelbar aus dem Boden steigt, mal als überschüssige, verbrauchte Wärme aus Abzugsröhren eines Gewächshauses oder Heißwasserbehälters quillt.

Je höher wir kommen, desto näher rücken die riesigen kahlen Berge, wie schwarze Sandhaufen, mal abgeplattet, mal mit Kegelspitze; an ihren Flanken ziehen sich dunkle Einkerbungen schlängelnd hinunter. Sie sind von ablaufendem Wasser gegraben, das auch die schüttere Vegetation immer wieder wegschwemmt. An einem erloschenen kleinen Krater steigen wir aus. Hier kann selbst ein Städter zu Fuß hochgehen - wenn er heute gegen den Sturm ankämpfen kann. Mir reißt eine Böe die Brille von der Nase, es fängt an zu hageln, Stiche ins Gesicht wie ein Angriff; die meisten fliehen zurück in den Bus. Fotografen kämpfen gegen klamme Finger und Windstöße, die schier die Kniekehlen eindrücken. Ich taste mich über glitschigen Untergrund zur Brille, die nicht etwa in den unbewegten See des Kratergrundes geflogen ist, sondern festhängt in Brocken und Moos. Die schweflig -gelbe Kalkumrandung des Geysirbeckens ist eine Augenhöhle, aus der quillt, stößt und steigt mit heißer Fontäne weißes, gischtumsprühtes Wasser, fällt zurück, steigt brodelnd und kochend nocheinmal und sinkt dann tief in sein hartes Becken zurück. Das Wasser ist so blau-grün-weiß, als würde hier, im äußersten Norden, das Mittelmeer übermütig in Kälte und Kargheit einbrechen, ein Überschießen und Überfließen, dem ich trotz eisiger Windböen und Schneeschauer gern stundenlang zusehen möchte, mit Schwefelgeruch in der Nase. Am Gullfolls, einem über zwei Schwellen dreißig Meter tief stürzenden Wasserfall, werden wir wieder durchnäßt. Der scharfe Wind treibt die Sprühwolke des fallenden Flusses über die Schlucht, näßt und nebelt uns ein. Hier wie auch an der auf kahler Anhöhe stehenden Kirche von Skalholt, dem ältesten Bischofssitz Islands, ist der Mensch und alles von ihm Gemachte ein von Wasser, Wind und Licht umwirbeltes Nichts. Als wir auf dem von erdspalten zerrissenen Thingvellir ankommen, dem tausendjährigen Versammlungsplatz des ersten isländlischen Parlaments, öffnet sich plötzlich in der Ferne die Wolkendecke und läßt den Spiegel des größten Sees der Insel unter sich glitzern wie ein Versprechen. Da bleibt endlich jedes Wort - zum Beispiel über die nie gesehene Klarheit des Wassers - in der Kehle sitzen; ausgesprochen würde es sowieso von den Lippen gefegt und selbst für den Nebenstehenden unhörbar weggetragen.

Ausflug in die Welt der Geister, Trollen und Elfen

Abends sind wir bei Frieda Sigrudadottir eingeladen, einer bekannten isländischen Schriftstellerin, deren Bücher jedoch nur in andere skandinavische Sprachen übersetzt sind. Da wir also nicht wissen, was und wie sie schreibt, und sie sich lachend weigert, ihre Texte nachzuerzählen, reden wir von etwas anderem, zum Beispiel von Geistern, Trollen und Elfen... Daß die Edda und die Sagas, beides auf Island niedergeschrieben und damit die ältesten Wortzeugnisse der altnordischen Religionswelt und Geschichte, hier umstandslos bis in die Gegenwart reichen, ist mir nach diesem Ausflug schon klar geworden. Denn die Landschaft liegt da wie eh und je, unbesiegt und unbesiegbar, drohend und selten sanft. Und sie ist nicht nur Schauplatz von Geschichte, sie selbst ist die Geschichte. Sogenannte Zivilisation hat sie nie auf sich geduldet, weder Straßen noch Eisenbahnen, begradigte Flüsse oder dauerhafte Häuser oder gar Städte. Vulkanausbrüche und in ihrem Gefolge Lavamassen und die reißenden Ströme schmelzender Gletscherkappen, brodelnde Seen und heiße Quellen haben den Menschen auf seinen Platz verwiesen: Am Rande dieser sich selbst gehörenden Natur, entlang den Küstenrändern der Insel, mit dem Rücken zum Inneren und dem Gesicht zum Meer. Fisch fangen und in den wenigen fruchtbaren Tälern das Vieh grasen lassen, das mußte genügen.

Seefahrt und Handel riß die dänische Krone jahrhundertelang durch ihre Islandkompanie an sich -, und ließ dem verelendeten Völkchen kaum seinen Atem. Mit dem aber sprach es dann endlos und kunstvoll von seiner eigenen, sagenhaften Vergangenheit und hielt aufsässig fest an der heidnischen Beseelung der Natur. Nicht nur die Sagas, sondern auch Volkszählungen und Märchen der Anderswelt sind hier bis heute präsent und real - wie sonst in Europa wohl nur noch in Irland.

„Ja“, sagte Frieda Sigurdadottir“, hier findet man oft Straßen mit einem merkwürdig unmotivierten Knick. Da wurde um einen Felsbrocken herumgebaut; ihn wegzuräumen würde keinem Isländer einfallen, denn er ist Wohnort von Elfen und die könnten sich rächen.“ Ich muß mein Gesicht wohl etwas verzogen haben, denn sie erzählt prompt eine Geschichte. Es ist die eines Hafenausbaus im Norden, der so sehr von Unglücksfällen begleitet war, daß die Baufirma schließlich das tat, was ihnen ohnehin jeder geraten hatten: mit den Elfen zu verhandeln. Durch ein Medium wurde der Gesellschaft Bescheid gegeben, zwei Jahre zu warten, bis die Erdgeister neue Wohnungen gefunden haben. So wartete man zwei Jahre. Danach ging der Ausbau zügig und ohne Störungen vonstatten.

Und was hat das alles jetzt mit den Frauen zu tun? Mir scheint eine historische - sozusagen aus Wind, Wetter und Literatur auftauchende - Tatsache einschneidend genug, nämlich das Fehlen einer industriellen Revolution. Wo sie stattfand, vernüchterte und brutalisierte sich das Verhältnis zur Natur, gesellschaftliche Arbeitsteilung wies den Frauen enge Grenzen an, und das Seelenheil wurde mehr und mehr Aufgabe der bürgerlich-introvertierenden Familie.

Weder christlich-autoritäre noch bürgerlich-verinnerlichte Moral hat auf Island je so recht ihren Nährboden finden können. Und für das Verhältnis der Geschlechter mag dies von ebenso großer Bedeutung gewesen sein wie die schlichte Tatsache, daß Seefahrt und Fischfang die Männer oft wochen und monatelang von zu Hause fernhielt. Sie zeugten wohl Kinder, wenn sie an Land bei ihren Frauen waren. Aber ob sie wiederkamen, war damit noch lange nicht klar, und daran war nicht immer der Wankelmut der Männer schuld, sondern oft genug Unfälle auf See - und natürlich auch die Selbständigkeit der Frauen, die auf sie verzichten lernten. Für heute heißt das zum Beispiel, daß statistisch gesehen 19 Prozent aller im letzten Jahr geborenen Kinder Islands nur mit ihrer Mutter leben und 61 Prozent in nicht-ehelichen Gemeinschaften aufwachsen.

Und hinzuzufügen ist, daß sowohl Jugendkriminalität als auch Drogensucht auf der Insel so gut wie unbekannt sind.

In den Fischfang hineinwachsen, heißt „in den Fisch zu gehen“

Am letzten und vorletzten Tag des Aufenthalts stürze ich durch die Regen- und Windkanäle der Reykjaviker Straßen, um schnell noch zwei Interviews zu machen. Ich fürchte, daß die Redaktion mein Landschafts- und Literaturerlebnis für politisch unerheblich halten wird. „Viel zu lang“, höre ich sie sagen - also muß ich mir noch Fleisch auf die Knochen des Artikels beschaffen, beziehungsweise Fisch.

Ingibjörg fährt uns nach Grindavik, ein an kahler schwarzer Küste stehendes Städtchen. Wie überall auf Island ist auch hier alles menschengemachte ziemlich neu und zerbrökelt von Anfang an; diese Natur hält kein Material lange aus. Als ich aus dem Auto steige, klatscht mir die von Fischgestank gesättigte Luft ins Gesicht: Hier sind wir also richtig.

Stella Haukskirdottir hat den Lebensrhytmus, den der Fisch bestimmt, schon an ihren Eltern gesehen und dann an sich selber erlebt. In den Alltag des alles beherrschenden Fischfangs hineinzuwachsen heißt, schon als Schülerin „in den Fisch zu gehen“. Wenn große Fänge angelandet wurden, schlossen die Schulen, und die Kinder halfen, den Fisch ein verderbliches Gut - zu retten. Ferien- und Wochenendarbeit ist wieder der Fisch, für die Jungen auf den Schiffen, für die Mädchen in den Verarbeitungsbetrieben an Land. Nach den Grundschuljahren arbeiten sie ebenfalls dort, in der Hoffnung, vielleicht mit dem Gesparten weggehen zu können. Und weggehen müssen die für alles, was nicht Fisch ist, ob es eine Lehre oder weiterführende Schule ist. Wer aber hat schon das Geld für einen Internatsplatz oder eine eigene Wohnung in der nächsten, weit entfernten Stadt?

Stella schaffte es nicht, aus diesem Kreislauf auszubrechen, und eine frühe Schwangerschaft machte zusätzlich alle Pläne auf Freiheit zunichte. Sie ging in die Gewerkschaft und wurde Aktivistin im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen.

Zuerst dachte ich, ich hätte mich verhört. “...Und dann konnten wir durchsetzen, daß jede Arbeiterin das Recht auf eine achtstündige Pause zwischen zwei Zehn- bis Zwölfstundenschichten hat.“

Die Zeiten, daß die „Rettung des Fisches“ als Aufgabe aller fürs pure Überleben notwendig war, sind auf Island noch nicht sehr lange vorbei. Nur hat sich heute die traditionelle Arbeitsmoral zum Treibriemen immer größerer Profite für eine immer kleiner werdende Schicht von Schiffs udn Fabrikbesitzern entwickelt und der traditionelle Sozialismus zur staatstragenden Sozialdemokratie gewandelt, deren Forderungen die Grundlage der Ökonomie nicht mehr antasten. Stella und die anderen Frauen waren dieser Ökonomie jedoch auf ihrer untersten Ebene weiterhin ausgeliefert, waren selbst ihre Grundlage. Als sich die Arbeitsbedingungen zum Beispiel durch ohrenbetäubenden Maschinenlärm verschlechterten, kam der soziale Fortschritt in Gestalt von Musikkopfhörern für die Arbeiterinnen in den Verarbeitungshallen - und jedes Gespräch zwischen ihnen erstarb.

Keine Lust mehr, den Fisch für die Bosse zu retten

Stella ging zu den Kvennalistinn und begann, deren Forderungen zu propagieren, die Abschaffung des Akkordsystems zum Beispiel, das die Menschen „im Fisch“ so oft zu Frührentnern macht, und das Exportverbot ohne Anlandung an der isländischen Küste, damit die Frauenarbeitsplätze im Land erhalten bleiben. Inzwischen allerdings hat sie gar keine Lust mehr, „für die Bosse den Fisch zu retten“. Als wir sie besuchten, war sie gerade dabei, ihr eigenes Geschäft aufzubauen. Zusammen mit einer Freundin will sie angelandeten Fisch einkaufen, verarbeiten und direkt als Frischfisch - also ungesalzen, getrocknet oder gefroren - durch einen Exporteur auf den Markt, was heißt: zum Flughafen und im Schnelltransport auf den Wochenmarkt von Kopenhagen, bringen.

Sofort schwärmen wir davon, daß sich einige Marktfrauen in Kopenhagen zusammentun müßten und Stellas Fisch abnehmen, so daß der vermittelnde - und verdienende - Exporteur samt dänischem Zwischenhändler auch noch ausgeschaltet werden könnten. Zur Erinnerung: Nach einem Bericht der Vereinten Nationen von 1980 machen Frauen die Hälfte der Weltbevölkerung aus, bewältigen zwei Drittel aller Arbeiten, erhalten ein Zehntel des weltweit gezahlten Arbeitsentgelds, besitzen aber nur ein Hundertstel allen Eigentums.

„So banal ist das mit der Ökonomie ja wirklich nicht“, sagen die Kvennalistinn. Das ganze Wirtschaftskauderwelsch, die angebliche „Komplexität der Verhältnisse“, ist eine spanische Wand, die uns vom Begreifen fernhalten soll. Es soll ein Geheimnis bleiben, nach welchen Prioritäten gehandelt und funktioniert wird, nach dem des Profits eines industriellen und militärischen Komplexes, der mehrheitlich in männlicher Hand ist und sich weit verzahnt, aus eigener Logik wächst und uns allen ausnahmslos seine vernichtenden Zwänge aufdrängt.

„Wir haben das Glück, eine einzigartige Landschaft zu besitzen: Luft, Wasser und Boden sind noch fast vollkommen unvergiftet“, damit beginnt die Kvennalistinn-Abgeordnete Kristin Halldorsdottir unser Gespräch über die Nato. Sie saß sechs Jahre im Parlament, ist jetzt aber herausrotiert. Ich sitze mit ihr im Fraktionszimmerchen der Frauenliste. Ausnahmsweise ist draußen gerade einmal sonniges Wetter und fast Windstille. Um so lauter hören wir durch das offene Fenster den Lärm der startenden und landenden Flugzeuge vom städtischen Inlandsflughafen dröhnen. Ich erzähle ihr, welche Vermutung mich nach der Lektüre einer Ministerrede beschlichen hat, nämlich, daß der Nato-Stützpunkt von Keflavik nicht nur als ökonomischer Faktor der Inselökonomie (124 Millionen US-Dollar extra im Staatshaushalt von 1987), sondern auch als Unterpfand im drohenden Ausschluß aus den Märkten von 1992 den Herrschenden unverzichtbar geworden ist. Da der Westen auch hier im Norden tüchtig verteidigt werde, sei es nur recht und billig, so etwa der Außenminister Jon Baldvin Hannibalsson in einem Nato-Papier im Januar 1989, daß Island keine Nachteile entstehen dürften, wenn es aus dem europäischen Binnenmarkt nach 1992 ausgeschlossen sei.

Wo heute die Militärbasis liegt, besser einen Gesundheitspark bauen

Kristin hat keinen Zweifel, daß jede isländische Regierung den Stützpunkt inzwischen erhalten will und durch ständige Verträge sogar ausländische Militärpräsenz erhöht hat.

Dabei verstehe jedes Kind, daß Stützpunkte vor allem auch Stadt und Land zum „militärischen Ziel“ machen können. Und auf die übliche Arbeitsplatzargumentation angesprochen, erzählt sie mir folgende lehrreiche Geschichte: Die Halbinsel Reykjanes, auf der Keflavik etwa 60 Kilometer von Reyjavik entfernt liegt, ist ökologisch von besonderer Qualität. Ein Geothermal-Kraftwerk zeugt von der Potenz des Bodens. Selbst sein heißes Abwasser ist als heilkräftig bekannt, zum Beispiel gegen die Schuppenflechte. Diese „Blaue Lagune“ jedoch sei das einzige, was man bisher daraus gemacht habe. Statt dessen wurde ausgerechnet dorthin der Stützpunkt mit riesigem Ölhafen gebaut und eine gigantisch aus den Lavafeldern sich erhebende Aluminiumhütte. Sie ist bisher noch das einzige Schwerindustrie-Projekt, das von der Regierung erfolgreich mit billiger Energie angelockt wurde.

„Wir können uns statt dessen einen großen Gesundheitspark dort vorstellen, der neben allen anderen Vorteilen für Mensch und Natur auch noch unzähligen Frauen Arbeit verschaffen würde.“ Und als ein weiteres, wie immer: simples, - Beispiel für ein notwendiges Umdenken in der Politik nennt Kristin die gespenstische Diskrepanz, die sie zwischen dem Maschinenlärm in der Fischverarbeitung und dem der U-Boote am Meeresgrund empfindet. Das Kriegswerkzeug, subtil und lautlos, ein elegantes Instrument der Vernichtung. Die Fabrikmaschinerie: lärmend und klobig, eine lebenslange Zumutung für Tausende von Menschen.

Die Umweltprobleme Islands beginnen sich gerade erst zu zeigen: Erosion des Bodens durch Überweidung der kostbaren Vegetation und die Überfischung der Fischgründe durch hochtechnisierte und tausendfach angewandte Fangmethoden sind die greifbarsten und bereits zu Kostenfaktoren in der ohnehin durch Kraftwerkbau hochverschuldeten Nationalökonomie geworden. Militärische Abfälle haben das Trinkwasser der Halbinsel Reykjanes so sehr verschmutzt, daß eine neue Trinkwasseraufarbeitungsanlage gebaut werden mußte, komplett mit Filtern und Umwälzpumpe - in einem Land, aus dessen Flüssen man noch trinken kann.

Rezepte haben die Frauen dagegen nicht. Sie fordern, wie alle Umweltparteien, in erster Linie ein Umdenken, und mit dem Rest schlagen sie sich pragmatisch herum, immerhin ohne ideologisches Gekrampfe. Bei der letzten Meinungsumfrage, wurden die Feministinnen als drittstärkste Partei des Landes benannt, 14,8 Prozent aller Stimmen sollen sie erhalten.

Auch wenn sie vielleicht an Elfen und Trolle glauben, an Wunder glauben sie bestimmt nicht.

Als ich Stella fragte, ob sie für das Parlament kandidieren würde, hatte sie sofort verneint und hinzugefügt, die wirklichen Veränderungen fänden dort ohnehin nicht statt. Also fragte ich mich einmal wieder, nach diesen kurzen vier Tagen in einem nicht ganz, aber doch ziemlich anderen Land, wo die Macht eigentlich liegt. Ganz oben oder ganz unten?