: Krenz weckt Reformhoffnung in der DDR
DDR-Sozialdemokrat Böhme lehnt Privatdialog mit Krenz ab / Dresdner SED-Chef Modrow fordert rasche Demokratisierung / Krenz läßt Polizeiübergriffe untersuchen / Die Mediendebatte in der DDR wird radikaler / „Großzügiges“ Reisegesetz versprochen ■ Von M.Geis & K.Hartung
Berlin (taz) - Einen Tag nach seiner enttäuschenden Antrittsrede überrascht eine Flut von Nachrichten, die zeigen, daß der neue DDR-Chef Krenz sein Wort von der „Wende“ durchaus ernst meinen könnte. Reiseerleichterungen, kritische Medien, Sofortprogramme für die Wirtschaft und Untersuchung staatlicher Gewaltakte werden versprochen. Vor allem aber - um das 'Neue Deutschland‘ zu zitieren - „Dialog im ganzen Land“.
Aber nur dialogisieren reicht nicht mehr. Fast sensationell: Nach Informationen der taz hat noch am Abend seiner Wahl Egon Krenz den Geschäftsführer der neugegründeten SDP, Ibraim Böhme, ein Gesprächsangebot übermittelt. Der Übermittler soll ein Offizier der Staatsicherheit gewesen sein. Böhme lehnte dieses Angebot aber ab. Er habe, so die Sprecherin der SDP, Angelika Barbe, auf die drei Grundsätze verwiesen, die von den oppositionellen Gruppen für einen Dialog formuliert wurden: Freilassung aller Gefangenen, Untersuchung der Polizeiübergriffe und Anerkennung der Opposition. Böhme habe das Gesprächsangebot vor allem deswegen abgelehnt, weil er nur als Bürger und nicht als Vertreter der Opposition eingeladen worden sei. Offenbar glaube die Partei, die Anerkennung oppositioneller Gruppen umgehen zu können. Böhme habe aber die Gesprächsbereitschaft unterstrichen. Ähnlich äußerte sich auch der ehemalige Anwalt und Sprecher des Neuen Forums, Henrich. Man solle Krenz eine Chance geben.
Das Gesprächsangebot wurde am Donnerstag abend in der Erlöserkirche in Ost-Berlin bekannt. Es wurde mit großer Gelassenheit quittiert - ein Zeichen für das neue Selbstbewußtsein der Opposition.
Der Sprecher des Neuen Forums Potsdam, Stefan Flade, schränkte zwar gestern gegenüber der taz die Meldungen von einem Gesprächsangebot durch die Kreisleitung ein. Allerdings haben Forumsvertreter bei Gesprächen mit dem Bürgermeister, den gesellschaftlichen Massenorganisationen und den Parteien teilgenommen. Diese Gespräche im Rahmen der „Nationalen Front“ sollen fortgesetzt werden. Themen: Behandlung der Demonstranten, Zulassung der oppositionellen Iniativen und die Frage des Wahlgesetzes. In Rostock will der Stadtrat laut 'adn‘ gar über „Parteienpluralismus und Bürgermitbestimmung“ reden. Nach ihrem Gespräch mit Krenz vom Donnerstag äußerten sich Kirchenvertreter vorsichtig optimistisch. Landesbischof Werner Leich meinte, Krenz könne den Unmut der Bevölkerung besänftigen. Sogar eine Wahlrechtsreform sei im Fortsetzung Seite 2
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Gespräch gewesen. Man habe Krenz auch Augenzeugenberichte von Polizeiübergriffen vorgelegt. Der Generalsekretär habe die Überprüfung zugesagt.
Bereits am Donnerstag wurde Innenminister Dickel vom Ministerrat aufgetragen, ein neues Reisegesetz auszuarbeiten. Laut 'adn‘ soll die Reiseregelung „uneingeschränkt gleiche Möglichkeiten für jedermann“, ein Visum zu beantragen, beinhalten. Professor Reinhold von der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK antwortete auf die Frage, ob mit dem neuen Reisegesetz die Mauer entfalle: „Natürlich ändern sich die Bedingungen für ein solches Grenzregime. Wir müssen eine Ordnung an der Grenze haben.“ Zwei Probleme wurden im Zusammenhang der Reisen hervorgehoben: die Frage der Konvertibilität der DDR-Mark und der Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft. Hier übernahm interessanterweise Krenz die Formulierung der SPD, indem er nicht verlangte, die DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen, sondern sie zu „respektieren“.
Zum ersten Mal hat sich der Dresde
ner SED-Bezirkschef Hans Modrow, lange Zeit als Moskaus Favorit im Gespräch, hervorgewagt. In einer Tagung der Dresdener SED forderte er einen breiten Dialog mit „allen Kräften“. Die politische Situation erfordere „unabdingbar einen tiefen Wandel, an dem alle Klassen und Schichten, insbesondere die Jugend und die Christen, beteiligt sein müssen“. Der Dialog müßte „Entscheidungen selbst bringen“. Bürgermitbestimmung also.
Unübersehbar bahnen sich Änderungen der Massenmedien an. Nicht nur, daß die Zeitungen offener kommentieren, präziser berichten und das Fernsehen zu Lifesdiskussionen westlichen Stiles übergeht; das 'Neue Deutschland‘ berichtete zum ersten Mal über Meinungsstreit auf der ZK-Sitzung, die zur Absetzung Erich Honeckers führte. Ein „reinigendes Gewitter“ sei es gewesen. Modrow habe ein Ergänzung der Krenz-Rede in den Punkten „Kritik und Selbstkritik“ durchgesetzt.
Der Stellvertretende Kulturminister Höpcke meinte, es sei an der Zeit, „Journalisten mit Lebenskenntnis nicht nur Berichte abzufordern, sondern sie auch zu kritisch -konstruktiven Kommentaren einzuladen“. Höpcke riet den Verantwortlichen des Fernsehens, sich bei Fragen der „Aktuellen Kamera“ einmal mit
dem „Medienfuchs“ Stefan Heym zusammenzusetzen. In diesem Zusammenhang zitierte er die vernichtende Kritik Heyms an der Hofberichterstattung.
Bundesdeutsche Politiker sind auf Erkundungsfahrt im Nachbarland. Der FDP-Vorsitzende Mischnik traf in Dresden Modrow, die Westberliner SPD-Politiker Ristock und Longolius konferierten in Ost-Berlin mit hochrangigen SED -Funktionären. Zur Frage der Reiseerleichterungen preschte der FDP-Politiker Lüder vor: DDR-BürgerInnen müßten bis zu 500 Ostmark im Verhältnis 1:1 tauschen dürfen. Mischnik und Regierungssprecher Klein standen diesem Vorschlag jedoch skeptisch gegenüber.
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