Die Massen müssen zu Trägern des Traums vom Sozialismus werden

■ „Sozialismus out?“ - Folge 4: Interview mit Jens Scheer (54), Atomphysiker und Anhänger der (aufgelösten) „Kommunistischen Partei Deutschlands/Aufbau-Organisation“

Du warst eine Woche in Moskau auf einem AKW-Seminar mit sowjetischen Experten - gibt es einen Unterschied zwischen der westlichen und der realsozialistischen Atomlobby?

Scheer: Nein, keinen. Eher sind die in der Sowjetunion noch kaltschnäuziger und rücksichtsloser. Das war ganz empörend, insbeondere die Leugnung der Schäden von Tschernobyl. Während in den sowjetischen Zeitungen sich Berichte häufen und Leute hundert Kilometer entfernt ihre Evakuierung verlangen, wird offiziell gemauert. Nicht einmal offizielle Daten gibt es.

Wie ist das begreiflich, nach 70 Jahren Sozialismus, daß eine Regierung so zynisch ist?

Scheer: Wir haben uns nie gescheut zu sagen, daß in der Sowjetunion seit langer Zeit ein System herrscht, das in seiner Menschenverachtung schlimmer ist als der Kapitalismus...

Wer ist: wir?

Scheer: Wir von der KPD, KPD/AO. Bei der Frage, wann die Weichen falsch gestellt worden sind, waren wir sicher zu schematisch, wenn wir sagten: Bis 1956, bis Chrustschow war im wesentlichen alles in Ordnung. Wir hatte die Mao'sche Formel übernommen: Stalin ist zu 30% negativ, 70% positiv. Das kann man sicher so nicht sagen. Ich halte aber weiterhin daran fest, daß Lenins Ansatz, in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution, im wesentlich richtig war. Daß es zu den Fehlentwicklungen kam, hat dann mit Stalin zu tun, aber auch mit der KPdSU, was eben zu solchen menschenverachtenden Positionen geführt hat wie jetzt in Fragen der Atomenergie ...

Was heißt: Fehlentwicklung? Wo ist da Ursache und Wirkung? Läßt sich das materialistisch erklären?

Scheer: Ein wesentlicher Punkt ist, daß die Revolution nicht eine Sache des ganzen Volkes war, sondern nur von einer relativen Minderheit getragen wurde. Und daß dann die Überzeugung herrschte, daß die richtigen Erkenntnisse, die man gewonnen hatte, auch in einer Situation der Einkreisung mit stählerner Konsequenz duchgesetzt werden könnten.

Der andere wesentliche Punkt ist, das wurde auch von Mao Tsetung eingesehen, daß sich die Auffassung durchsetzte, jetzt sei Harmonie erreicht, der Sozialismus. Und wer jetzt noch Widerspruch habe, sei ein Feind und müsse vernichtet werden. Das hat sich bis in die Gegenwart durchgesetzt. Während Mao Tsetung erkannt hat, das ist einer seiner großen Fortschritte gegenüber Stalin, daß Widersprüche im Volke nach der politischen Umwälzung bleiben, und daß man sie sorgsam behandeln muß...

Das hat in Peking auf dem Platz des himmlischen Friedens geendet.

Scheer: Da würde ich energisch protestieren. Deng galt immer als der Anti-Mao. Eine schärfere Abweichung von Maos Prizipien bei der Behandlung von Widersprüchen kann man sich nicht denken.

Nach 70 Jahren sozialistischer Experimente: Gibt es für Dich ein Land Deiner Träume?

Scheer: Nee, eher eine Utopie...

... ist das nicht ganz schlecht für die Utopie, wenn sie überall in der Realität scheitert?

Scheer: Glaube ich nicht. Das ist natürlich schade. Ich würde trotzdem sagen: Es ist nicht notwendig im Ansatz angelegt, daß das scheitern muß. Da gibt es auch historische Zufälligkeiten. Es hätte auch anders laufen können nach Maos Tod, auch in der SU hätten andere Entscheidungen getroffen werden können.

Gibt es an der politischen Konzeption, wie man den Kapitalismus hin zum Sozialismus überwindet, für Dich etwas zu korrigieren?

Scheer: Ja, die Einbeziehung, die Trägerschaft durch die Massen.

Kaum jemand hat so viel vom den Volksmassen geredet wie gerade Lenin und Mao.

Scheer: Natürlich. Beide, vor allem Mao, haben immer die Dialektik betont: Die Kommunisten müssen Teil der Massen sein und gleichzeitig sind sie auch besonders. Diese Widersprüchlichkeit muß man aushalten. Ich glaube, daß das nicht richtig gelöst worden ist, und daß sich die Partei über die Massen erhoben hat. Das, meine ich, ist der entscheidende Punkt: daß große Menschenzahlen wirklich von sich aus sich das nicht gefallen lassen...

In der DDR wollen die jetzt nichts wie ab in die Warenhäuser des Westens...

Scheer: Das ist ein Ausdruck der Tatsache , daß sie über 40 Jahre malträtiert wurden. Andererseits finde ich immer sehr schön, wenn die, die drüben bleiben, sagen: Wir sind sehr wohl für den Sozialismus in der DDR, aber damit müssen wir mal anfangen. Ich war mit 14 Jahren in Hamburg gut befreundet mit Biermann, der ein paar Straßen weiter wohnte, da habe ich mein erste kommunistische Phase gehabt. Zwischen 1946 und 1949 wollten sehr viele mit Begeisterung den Sozialismus aufbauen. Daß das so bitter enttäuscht und in die falsche Richtung gelenkt wurde, ist tragisch. Deswegen würde ich mir wünschen, daß die nochmal bei 1949 anfangen und daß dann die Träume, die wir damals hatten, nämlich über eine sozialistische DDR zu einem sozialistischen Deutschland zu kommen, nach 40 Jahren doch noch verwirklicht werden.

Int.: K.W.