Sexueller Mißbrauch - ein notwendiges Hearing

■ Das Fachwort ist bekannt, „die Ungeheuerlichkeit“ noch längst nicht begriffen / Hearing in Bremerhaven

„Sexueller Mißbrauch“: Ein Fachausdruck hat sich herumgesprochen und geht schon leicht über die Lippen. Aber das, was sich dahinter an Realität in den Familien verbirgt, ist noch immer schwer vorstellbar. Auch frauenbewegte Mütter schauen weg, LehrerInnen und FreundInnen übersehen die Signale. Schwer zu vergegenwärtigen auch das Ausmaß, das Zahlen nüchtern wiedergeben: „Jedes dritte, vierte oder fünfte Mädchen ist betroffen.“

Am Samstag fand in Bremerhaven ein Hearing statt zum Thema „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen“. Eine Berufsgruppe von u.a. Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen hat es gemeinsam mit der Gleichstellungsstelle organisiert. Sie hatten sich Rednerinnen aus Berlin und Hamburg geholt, gibt es in Bremerhaven doch noch keine Tradition von Selbsthilfegruppen und Anlaufstellen. Rund hundert Frauen und wenige Männer folgten den Referaten und mußten sich zunächst sagen lassen, sie sollten sich selbst prüfen: Die Frauen, ob sie nicht in sich eigene Erlebnisse von früheren sexuellen Übergriffen begraben hätten; Erlebnisse, die dazu beitrügen, bei anderen wegzugucken oder aber - konfrontiert mit einem betroffenen Mädchen - in große Hilflosigkeit zu versinken. Die Männer

mußten sich auffordern lassen, diejenigen Mädchen, die sich ihnen anvertrauen, an Kolleginnen weiterzuvermitteln. (Der Mißbrauch an Jungen war kein Thema.)

Die Autorin Barbara Kavemann versuchte, dem Saal die „Ungeheuerlichkeit“ begreiflich zu machen, die sich hinter dem Begriff „sexueller Mißbrauch“ verbirgt: „Sexueller Mißbrauch“, das fängt an bei versteckten, schäbigen Berührungen beim Zubett-Bringen oder beim Baden. „Sexueller Mißbrauch“, das hört auf beim nächtlichen Eindringen ins Kinderzimmer, das ist Vergewaltigung, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Oft vergewaltigen die Mißbraucher oral oder anal, wenn die Mädchen noch klein sind und sie auffällige Verletzungen befürchten. Mißbraucher aus dem islamischen Kulturkreis bevorzugen „Analverkehr“, um die „entehrende“ Entjungferung des Mädchens zu vermeiden. - „Sexueller Mißbrauch“, das ist, so Kavemann, „immer geplant immer ein Akt von Macht und Unterwerfung“. Mädchen seien durch ihre Erziehung „dazu prädestiniert, artige, brave, höfliche, gehorsame Opfer zu sein“, ergänzte Marion Mebes.

Bei den Mädchen löst der Mißbrauch eine Palette von seelischen Reaktionen aus, was Kave

mann auf die kurze Formel brachte: „Was die eine wegsteckt, bringt die andere um.“ Und immer wieder Zahlen: 80 Prozent der weiblichen Drogenabhängigen, 90 Prozent der minderjährigen Prostituierten - als Kind „sexuell mißbraucht.“

Marion Mebes, Berliner Präventions-Expertin, plädierte dafür, Kinder darin zu bestärken, „nein“ zu sagen, wenn sie mit

körperlichen Berührungen nicht einverstanden seien. Ihre Grenzen schon dann zu respektieren, wenn sie bei aufdringlichen „Küßchen“ den Kopf wegdrehten, sich vom Schoß herunterzappelten. Mütter sollten überlegen, inwieweit sie ihren Töchtern in dieser Hinsicht eigentlich ein gutes Vorbild seien. Mebes weiter: „Der wichtigste Schutz des Täters ist die Geheimhaltung durch das

Mädchen“. In den USA seien Präventionsprogramme entwickelt worden, die Kinder aufforderten, sich Erwachsene zu suchen, denen sie sich anvertrauen könnten. Diese Programme seien in der Bundesrepublik noch nicht zu verantworten: „Es muß erst sichergestellt sein, daß genug Ansprechpartner da sind, die hören wollen, was die Kinder erzählen.“

Barbara Debus