Swinging Metropolis

■ 49. Teures, saub'res Vaterland

„Ich habe einen Onkel, / Der wohnt in Neu-Ruppin. / Der war nie in seinem Leben / Noch niemals in Berlin. / Drum schrieb ich ihm: ''s ist ganz egal, / Du kommst jetzt und besuchst mich mal.‘ / Da fuhr der gute Alte / Hinaus aus Neu-Ruppin. / Nun sah mein lieber Onkel Fritz / Zum ersten Mal Berlin.“

So beginnt das Erfolgscouplet von Otto Reutter, mit dem der Newcomer das vielgepriesene Leben in der Reichshauptstadt kritisch auf die Schippe nimmt. Unterbrochen von den rasch populären Refrainzeilen „Onkel Fritz aus Neu-Ruppin / Ging spazieren in Berlin“ läßt er den Onkel beispielsweise durch eine Ausstellung der gerade aktuellen, umstrittenen Secessions-Bewegung latschen. Sowas hat er noch nie gesehen: „Die Bäume, die sind bläulich, / Der Himmel, der ist grün. / Da lob‘ ich mir ein Bild / Von Gustav Kühn in Neu-Ruppin.“ Mit lach-reizendem Fingerspitzengefühl bis hin zum Binnenreim steigert er sich in satirische Höhen, die sich Varietekünstler und Salonhumoristen eher zu verkneifen pflegen: „Er ging durch alle Straßen / Und sah sich alles an. / Er blieb auch manchmal stehen, / Da kam ein Schutzmann ran. / Der sagte: 'Bleib'n Sie hier nicht steh'n, / Sie müssen auseinander geh'n!‘ / Da sprach mein lieber Onkel: / ''s herrscht Ordnung in Berlin, / Wir machen auf der Straße / Was wir woll'n in Neu-Ruppin.'“

Soviel zur Zusammenrottung. (Kuck mal, da steht einer, der umzingelt uns!) Die Verherrlichung des Preußengeistes findet ihren Ausdruck in der Siegesallee, die eben im Tiergarten errichtet ward und mit der Reutters Verwandter von JottWeDe seine Schwierigkeiten hat: „Nun ging mein lieber Onkel / Zur Sieg'sallee hinaus. / Da ward ihm etwas übel, / Drum spuckte er mal aus. / Ein Schutzmann sprach: 'Ich hab‘ geguckt, / Sie hab'n ein Denkmal angespuckt!‘ / 'Ich konnte gar nicht anders‘, / Hat Onkel da geschrien, / 'Denn wo der Mensch auch hinspuckt, / Steht ein Denkmal in Berlin!'“

Diese seine spöttische Haltung hebt den scharfen Beobachter über das Gros seiner Bühnenkollegen bis 1914 hinaus. Steigende Lebenshaltungskosten, die Zunahme indirekter Steuern durch eine Reichsfinanzreform im Jahre 1909 und all der schmählich Schmuh, den auch heute jeder kennt, sieht er sich etwa mit den „reformierten“ Kosten für seinen Zahnersatz konfrontiert, solch ewiggleiche Zeitbezogenheit findet sich, wenn O.R. - gleich, wo im deutschen Lande singt: „In unserm Reich gibt's oft 'ne Steuer. / Woanders ist oft billiger, wie bekannt. / Grad unser Vaterland ist etwas teuer, / Daher der Name: Teures Vaterland. / Auch die Zigarr'n will man jetzt noch versteuern. / Drum steck‘ ich keinen Stengel mehr in Brand, / Dann spar‘ ich Geld. Wodurch? Durch neue Steuern. / Das dank‘ ich dir, mein teures Vaterland!“

Was er in einer weiteren Strophe über den vaterländischen Ehrendienst zu berichten hat, ist auch 'ne Spur ehrlicher als üblich. Ein frisch gezogener Rekrut schreibt seinen Eltern, er habe sich bisher für einen Menschen gehalten, was er nun, angesichts der Kasernenhof-Termini, in Zweifel ziehen müsse: „Ich werde Esel, Ochs, Kamel genannt, / Ich komm mir vor, wie ein zoolog'scher Garten. / Das dank‘ ich dir, mein teures Vaterland!“ Man bedenke, die Unterhaltungsbühne pflegte ansonsten weitgehend die Verherrlichung des Militärs und alles Schneidig -Patriotischen. Rekruten werden als Deppen dargestellt, die das Heer erst mal zum Menschen formt.

Und dann ist da noch die „Lex Heinze“, mit der eine moralinsaure Regierung das Volk im jungen 20. Jahrhundert beglückt. Nach dieser zum Strafgesetzbuch eingebrachten Novelle ist die „naturhafte Darstellung des menschlichen Körpers“ künftig als unsittlich zu bewerten - inclusive sinngemäße Weiterungen auf dem literarischen Sektor.“ Solch Angriff auf die Freiheit kreativen Tuns löst denn auch einen Sturm der Entrüstung aus, „und Alte und Junge, die Modernen und die Antimodernen, was sich sonst auf dem Feld der Kunst bekriegt, fanden sich zusammen, um energisch die heraufziehende Gefahr abzuwehren.“ ('Berliner Illustrirte Zeitung‘)

Die Gründungsmitglieder des Kabaretts „Elf Scharfrichter“ ziehen durch die Münchner Innenstadt, ein Lied intonierend, das allerlei Schandtaten androht, aber „nackert, nackert, nackert geh'n wir nicht!“ Ludwig Thoma, der die Sittenwächter porträtiert als „Greise mit Schnackelbeinen... / alle, denen einzig blieb / nur der Suff als Mannestrieb“ wird noch sechs Jahre später, in Form einer sechswöchigen Haftstrafe, die Rache der Greise zu spüren bekommen. Wegen unlängst ausgebudedelter antisemitischer Tiraden in die 1989er Presse geraten, verbindet ihn solche Negativwerbung mit dem preußischen Kollegen Reutter, dessen hurrah -patriotischen Ausrutscher anläßlich des Ersten Weltkrieges schon länger bekannt sind. Auch, denn selbstverständlich schweigt letzterer ebenfalls nicht zur verordneten Verklemmtheit: „Jetzt besing‘ ich die 'Lex Heinze‘, / Ihr hab‘ ich mein Lied geweiht. / Endlich durchgegangen scheint se, / Darum hoch die Sittlichkeit! / Wer jetzt realistisch dichtet, / Wird bestraft, wenn er nicht schweigt. / Jeder Maler wird vernichtet, / Wenn er uns die Eva zeigt. / Früher formte die Skulptur / Nach Natura die Figur. / Die Modelle ebenfalls / Waren barfuß bis zum Hals. / Selbst ein Storch wie unvernünftig! - / Kam mit nackten Kindern an. / Nun erwägt man, ob man künftig, / Sowas nicht verhindern kann.“

Nicht zu verhindern war der Fehler in der Überschrift der letzten Folge. O.R.s Geburtsort heißt nicht „Gardeleben“, sondern „Gardelegen“ - „legen“ wie „setzen“! Meyers Großes Konversationslexikon von 1908 klärt auf: „Gardelegen, Kreisstadt im preußischen Regierungsbezirk Magdeburg. Knotenpunkt der Staatsbahnlinie Wustermark-Hamm und der Kleinbahn Gardelegen - Kalbe an der Milde, 3 evangelische und 1 katholische Kirche, Realschule, Privatierenanstalt, Amtsgericht; betreibt Perlmuttknopf-, Stärke-, Konserven und Zigarettenfabrikation, Eisengießerei, Fabrikation von landwirtschaftlichen Maschinen, Molkerei, Bierbrauerei und hat (1900) mit der Garnison (2 Eskradons Ulanen Nr.16) 7.799 Einwohner, meist evangelisch. Seit 1133 saßen hier Grafen als magdeburgische Lehnsleute, nach deren Aussterben (1300) Gardelegen an Brandenburg fiel. Im 16. Jahrhundert blühten Weinbau und Brauerei, berühmt war das gewürzhafte Bier, Garlei genannt.“

Norbert Tefelski