„Die IG-Metall ist gut durchlüftet“

■ taz-Gespräch mit Franz Steinkühler über Bilanz und Perspektiven gewerkschaftlicher Arbeit / Der Erste Vorsitzende plädiert für das freie Wochenende, die offensive Auseinandersetzung mit den REPs, Perestroika in der IG Metall und sucht neue Bündnispartner neben der SPD

taz: Heute nimmt der 16.ordentliche Gewerkschaftstag der IG Metall seine Arbeit auf, und die damit verbundene Medienöffentlichkeit wurde für allerhand Säbelrasseln zur nächsten Tarifrunde benutzt. Steht im Frühjahr 1990 tatsächlich die dramatischste Auseinandersetzung aller Zeiten an?

Franz Steinkühler: Eigentlich ist ein Gewerkschaftstag ja nicht dazu da, die Handlungsfreiheit von Tarifkommissionen einzuschränken. Trotzdem ist die Versuchung für viele ehren und hauptamtliche Funktionäre groß, dieses Forum auch für Stellungnahmen zur Tarifsituation zu nutzen. Wir werden aber gut daran tun, im Hinblick auf die kommende Tarifbewegung ganz nüchtern zu analysieren welche Szenarien denkbar sind, von den optimistischen bis zu den pessimistischen. Und die IG Metall wird generell gut beraten sein, sich dabei nicht auf die optimistische, sondern gerade auch auf die pessimistische Variante vorzubereiten. Wenn man die Fakten betrachtet, könnte man schon zu dem Schluß kommen, daß wir mit einer der härtesten Tarifbewegungen konfrontiert werden.

Zu Beginn der 90er Jahre wird die IG Metall mit der zentralen Forderung der 70er Jahre, Arbeitszeitverkürzung auf die 35-Stunden-Woche, antreten. Fällt Ihnen nichts Neues mehr ein?

Ich denke, es ist etwas für Gewerkschaften typisches, daß große Ziele nicht mal in guten Zeiten auf einmal erreicht werden können, und in schlechten Zeiten - wir haben acht Jahre Massenarbeitslosigkeit - schon gar nicht. Aber es zeichnet auch Gewerkschaften aus, daß sie nicht einfach kapitulieren, sondern in schwierigen Situationen an ihren Zielen festhalten. Inzwischen haben sich die Begründungen für die Reduzierung der täglichen Arbeitszeit verschoben: Als die Forderung nach der 35-Stunden-Woche aufgestellt wurde, standen humanitäre Gesichtspunkte im Vordergrund, jetzt sind zusätzlich Arbeitsplatzargumente dazugekommen. Wenn dieses eine große Ziel endlich abgehakt sein wird, können wir uns wieder anderen, ebenfalls wichtigen Forderungen und Bedürfnissen der Arbeitnehmer widmen. Mir fällt dazu eine Menge ein.

Warum ist die IG Metall partout auf das freie Wochenende fixiert?

Das hat etwas damit zu tun, daß Arbeitnehmer an dem Reichtum dieser Gesellschaft teilhaben wollen, und das bedeutet eben nicht nur, für einen anständigen Lohn und gute Arbeitsbedingungen einzutreten. Zum Reichtum unserer Gesellschaft gehört auch die Gestaltungsmöglichkeit der Freizeit, die Entscheidung darüber, wie Arbeit in der Familie aufgeteilt wird, die Möglichkeit, mit seinen Kindern zu wachsen, in Vereinen tätig zu sein - und dazu braucht man das freie Wochenende.

Die Massierung von Freizeitwünschen am Wochenende macht diese Zeit aber immer mehr zur Streßrunde. Ist Entzerrung da nicht sinnvoll?

Wir haben darüber lange nachgedacht, weil die Frage nach der Lebensqualität in der Freizeit selbstverständlich zu recht gestellt wird. Für einen Teil der Menschen ist es wahrscheinlich ein echter Pluspunkt, absolut souverän über ihre Freizeit entscheiden zu können. Aber das gilt nicht für die Mehrheit der Menschen, die einen Arbeits- und Lebensrhythmus haben, der auch von Familienbindungen geprägt ist. Eine Festlegung sind zum Beispiel Kinder, die in die Schule gehen. Deshalb ist das Modell „samstags arbeiten und montags freinehmen nur für Singles spannend. Tage haben nicht den gleichen Wert. Im übrigen, ich sitze lieber Samstags in einer vollen Kneipe als Montags in einer leeren.

Solche Arbeits- und Lebensvorstellungen kann nur ein Teil der Menschen in der Zwei-Drittel-Gesellschaft realisieren. Sind diejenigen, die aus diesem Modell rausfallen, wozu auch erstmal Asylsuchende aus aller Herren Länder, Aussiedler, Flüchtlinge aus der DDR gehören, eine Konkurrenz für die Menschen im gewerkschaftlich garantierten Bereich?

Zunächst einmal, was heißt schon „gewerkschaftlich garantierter Bereich“? Ich denke, garantiert ist nur, was die Gewerkschaften - egal ob es auf dem Papier steht oder nicht - mit Kraft zu halten in der Lage sind. Insofern hat nicht einfach ein Teil der Menschen ein feines Leben, weil er im Bereich gewerkschaftlicher Besitzstände lebt, sondern wir alle müssen immer wieder für menschenwürdige, für gute Arbeits- und Lebensbedingungen streiten - insofern sehe ich solche scharfen Abgrenzungen - hier Garantien, dort vogelfrei - nicht. Wenn aber in der Gesellschaft neue Spaltungen zu dauernder Armut, zu Pauperismus führen, Menschen in einen Verelendungskreislauf stürzen, dann ist das nicht nur Konkurrenz, sondern eine Gefahr für die Arbeiterbewegung. Ganz vorsichtig, denn das ist kein Gebiet mit gesicherten Erfahrungen für uns, fängt die IG Metall ja auch damit an, sich stärker um Lebensbereiche außerhalb der Unternehmen zu kümmern. Wir wollen mitgestalten, wenn es um Bereiche wie Wohnen oder um die Lebensumstände alter Menschen geht.

Wahlanalysen haben gezeigt, daß eine nicht unbeträchtliche Zahl von Arbeitern mit Angst vor sozialem Abstieg die „Republikaner“ gewählt hat. Was können Gewerkschaften gegen dieses politische Abdriften tun?

Ich glaube nicht, daß hier die Gewerkschaften in erster Linie gefragt sind. Dieses Wahlverhalten ist eine Reaktion auf Glaubwürdigkeitsverlust und politisches Versagen bei den Parteien. Gewerkschaften müssen allerdings dazu beitragen, daß keine falschen Alternativen entstehen, daß die Denkstrukturen, die einen Arbeitnehmer dazu bringen, Republikaner zu wählen, nicht verdrängt, und auch nicht denunziert werden. Wir müssen deutlich machen, daß es eben nicht die Ausländer sind, die an der Arbeitsplatzmisere schuld sind, wir müssen deutlich machen, daß es nicht die Asylsuchenden sind, die an der Wohnungsnot schuld sind, wir müssen zeigen, daß es unsere ganz hausgemachten gesellschaftlichen Strukturen sind, die diese Zustände produziert haben. Das ist ein schwerer Weg. Deshalb bin ich auch zum jetzigen Zeitpunkt nicht dafür, Mitglieder, die bei den Republikanern mitarbeiten, ohne Verfahren aus der Gewerkschaft auszuschließen. Die Republikaner vertreten eine Politik, die antidemokratisch und gewerkschaftsfeindlich ist. Aber ich hoffe, daß wir in intensiver Auseinandersetzung solche Kollegen wieder für unsere gemeinsame Sache gewinnen können. Wenn Sozialdemokraten und Gewerkschaften etwas ändern wollen, dann nur, indem sie Strukturen offenlegen und Denkalternativen anbieten. Es besteht durchaus die Gefahr, daß Parteien opportunistisch auf den nächsten Wahltermin schielen, oberflächliche Erklärungen anbieten und damit eher Bewußtsein verkleistern.

Das ideale Gewerkschaftsmitglied war früher männlich, Facharbeiter und zur Ochsentour im Apparat bereit. Wer ist das ideale Mitglied heute?

Jetzt erwarten Sie von mir eine Antwort wie „Siebentausend Mark Einkommen, beitragsehrlich...“ Nein, ernsthaft, mir fällt es schwer, ein ideales Mitglied zu beschreiben. Für mich ist es wichtig, daß die Frau und der Mann, Facharbeiter, Hilfsarbeiter, Ingenieur, Angestellte und Auszubildende sich gleichermaßen mit ihren unterschiedlichen Wünschen, Bedürfnissen und Zielen in dieser IG Metall wiederfinden. Die Frage muß umgekehrt gestellt werden: Wie muß die ideale IG Metall für diese Vielzahl von Arbeitnehmerinteressen aussehen?

Das hört sich an, als hätte der Kollektiv-Verein IG Metall das Individuum entdeckt. Werden die sich dann nicht verhalten wie Wechselwähler, für jedes Lebensproblem die entsprechende Organisation und nicht mehr lebenslange Treue zur Gewerkschaft?

Die IG Metall ist nicht für die einfachen Lösungen, die sind ja doch nicht dauerhaft. Die Gewerkschaften sind immer dafür eingetreten, daß ein Zustand geschaffen wird, in dem die Menschen als Einzelne ihre höchstmögliche Individualität entfalten können, das heißt für uns persönliche Freiheit. Aber, was wir sehr deutlich machen, ist, daß diese individuelle Entfaltung nur denkbar ist - nicht nur praktisch, auch theoretisch - auf einer breiten, kollektiv gesicherten Basis. Aufgabe der Gewerkschaften ist es, solche gesellschaftlichen Standards sicherzustellen. Unsere Aufgabe ist es nicht, hineinzureden, ob der eine lieber Tauben züchtet oder der andere lieber kegelt.

Die IG Metall hat ja immens zugelegt bei der Organisierung von Frauen, was von manchen Seiten mißtrauisch beobachtet wurde. Ist das eine Alibiaktivität? Oder das letzte Aufgebot?

Ach was, weder eine Alibiaktivität und schon überhaupt nicht das letzte Aufgebot. Man muß sehen, daß sich bei uns in den vergangenen Jahrzehnten die Gesellschaft wesentlich schneller verändert hat, als Organisationen ihr folgen konnten. Ein Beispiel ist, daß Frauen heute wesentlich mehr Wünsche, die berechtigt sind, artikulieren, als sie es vor wenigen Jahren noch getan haben...

... und man es sich als Mann auch nur hat vorstellen können...

Na klar, das hat sich überhaupt niemand vorstellen können. Probleme, die Frauen vor Jahren schon aufgeworfen haben, sind zum Teil heute noch nicht behoben. Frauen haben immer noch die schlechteren Arbeiten und sind auch immer noch schlechter bezahlt. Und unsere Rezepte dagegen waren nicht immer die wirkungsvollsten. Es reicht eben nicht, die unteren Löhne anzuheben, die unteren Lohngruppen zu beseitigen. Wirkungsvoll ist es letztlich nur, wenn die Frauen in Zukunft keine schlechtere Ausbildung mehr bekommen und im Berufsleben dieselben Aufstiegschancen wie Männer haben. Zu diesen Bedingungen für Chancengleichheit im Arbeitsleben kommen heute zusätzliche Forderungen der Frauen. Ich glaube, wir können die nur mit einem time-lag, einer gewissen Zeitverschiebung aufnehmen, aber ich bin optimistisch, daß sich dieses Nachhinken verkürzt, weil die Forderungen von Frauen zunehmend bei Männern auf fruchtbaren Boden fallen. Die haben jetzt erkannt, daß das nicht gegen sie geht, sondern daß frauenspezifische Forderungen auch für sie neue Chancen eröffnen.

International gelten die deutschen Gewerkschaften als besonders stabil. Dazu trug auch die eherne Bindung an die SPD bei. Heute gibt es von Gewerkschaftsseite massive Kritik an den neuen Modernisierern in der SPD, gleichzeitig wird der Traditionsverein Kirche als Bündnispartner entdeckt. Zeichnen sich da grundsätzliche Umorientierungen ab?

Mit der SPD gibt es geschichtliche Bindungen, die wir mit anderen neuen Bündnispartnern nicht haben. Aber weil die gesellschaftliche Entwicklung neue Bedrohungen bringt und damit auch nach neuen Lösungen gesucht werden muß, können wir uns nicht auf diese traditionelle Bindung beschränken. Wenn ich etwa sehe, was alles auf dem Gebiet der Umwelt angepackt werden muß, ist es einfach nötig, daß die Gewerkschaften sich neue Bündnispartner über die SPD hinaus suchen. Und die gibt es, von den Sportverbänden bis zur Kirche. Wir sollten uns nicht scheuen, mit allen zusammenzuarbeiten, die diese Gesellschaft vorwärtsbringen wollen. Die Kirche galt Gewerkschaftern früher als Organisation, die in kritischen Fragen immer auf der Seite des Gegners stand. In der Zwischenzeit müssen wir feststellen, daß sich da einiges geändert hat und es Gebiete gibt, wo wir ein Stück gemeinsam gehen können. Die Gewerkschaften werden aber sicher vorsichtig genug sein, sich mit niemandem auf Gedeih und Verderb zu verbrüdern.

„Weg mit Schaden!“ ist das Motto, mit dem die sozialistische Utopie vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklung in Osteuropa von ewigen Gegnern, aber auch von ehemaligen Anhängern auf den Misthaufen der Geschichte geschmissen wird. Was ist - oder bleibt - Ihre Vision für Arbeiterbewegung und Gesellschaft auf der Schwelle zum dritten Jahrtausend?

Wenn man sich in der Bundesrepublik so umhört, dann muß man ja schon Ohrenschützer tragen, um die Schmerzen der ideologischen Sektkorkenknallerei zu vermeiden, die im Moment allerorten im Gange ist. Ich denke, was in der Sowjetunion mit Glasnost und Perestroika eingeleitet wurde, ist nicht der Tod des Sozialismus, sondern der Sieg der Demokratie. Und ich bin überzeugt, die Alternative ist nicht der Kapitalismus - wir kennen schließlich seine Demokratiedefizite vom deutschen Faschismus bis Chile -, die Alternative ist für mich der demokratische Sozialismus. In der Sowjetunion ist eben nicht der Sozialismus, sondern die Stalinistische Pervertierung dieses Konzepts gescheitert.

Die Frage nach dem Umgang mit den sozialistischen Idealen stellt sich nicht nur in der Sowjetunion, sondern überall für die Arbeiterbewegung. Braucht die IG Metall auch Perestroika?

Perestroika kann nirgends schaden. Und wenn man sich nicht selber radikal fragt, ist es schon nützlich, unter Druck gesetzt zu werden, um nachzuprüfen, ob denn die eigenen Theoreme und Konzepte noch zeitgemäß und haltbar sind. Es gibt keine ewig geltenden Glaubenssätze, auch in der IG Metall nicht. Bei uns haben wir eine Situation, wo man sagen kann: Die IG Metall ist gut durchlüftet. Da ist in den Ecken nicht allzuviel Muff. Trotzdem ist so ein Gewerkschaftstag, wie wir ihn jetzt vor uns haben, ein guter Seismograph dafür, ob unsere Vorgaben von der Mitgliedschaft getragen werden.

Fremdbild und Selbstbild, das klafft ja manchmal ziemlich auseinander. Sie sind gewählt worden als Modernisierer und Demokratisierer, stimmt das Bild noch?

Mein Bild von mir selbst ist das immer noch, ob das bei den Leuten so ist, tja, da muß und möchte ich mich dem Urteil derjenigen stellen, für die ich arbeiten. Ich glaube, ich kann eine ganze Reihe von Veränderungen vorweisen, die auch akzeptiert sind. Was mir mehr Probleme macht, ist, ob das Marschtempo stimmt. Manchmal laufe ich Gefahr, zu schnell zu sein, zu vergessen, daß wir 2,7 Millionen Mitglieder haben. Da muß man vorsichtig sein, zwei, drei Schritte vor der Truppe kann man leicht abgehängt werden. Aber sowas muß ein Kongreß nötigenfalls auch korrigieren.

Sowas ist ja auch eine Frage von Ehrgeiz, und sie gelten als ehrgeizige Persönlichkeit. Ist die IG Metall eine Karrierefalle für Sie?

Das ist eine schwierige Frage. Ich bin natürlich ehrgeizig, und auch ungeduldig. Ich denke, Ehrgeiz kann überhaupt nix schaden. Ob es eine Karrierefalle ist - das wäre es dann, wenn mich die Arbeit nicht mehr befriedigen würde. Ich muß sagen, jeden Morgen bin ich gierig nach dieser Arbeit, also keine Karrierefalle.

Interview: Georgia Tornow