Polens Grenzpolizei liefert DDR-Flüchtlinge aus

Trotz gegenteiliger Zusagen der Regierung in Warschau übergibt die polnische Grenzpolizei WOP weiterhin illegale Grenzgänger an die DDR / Haltung der Bevölkerung zu Flüchtlingen geteilt / Nervosität bei polnischen Grenzbehörden  ■  Aus Stettin Klaus Bachmann

„Immer wenn die Grenzer den Autobus nach Stettin anhalten und durchsuchen, wissen wir, daß wieder jemand über die grüne Grenze gekommen ist“, berichtet eine Bauersfrau aus Stolec, einer kleinen Gemeinde südöstlich von Stettin. Die polnischen Grenzbehörden sind über illegale Grenzübertritte schnell informiert, da die Grenze, die an dieser Stelle über Felder und Wiesen verläuft, mit Fotozellen ausgelegt ist, die jede Unterbrechung registrieren. Ein hüfthoher Drahtzaun verhindert, daß Tiere den unsichtbaren Strahl unterbrechen.

Flüchtlinge, die die schwarzen Blöcke mit den Glasaugen nicht zu deuten wissen, lösen beim Grenzübertritt Alarm aus. Innerhalb von zehn bis fünfzehn Minuten wird dann der unmittelbare Grenzbereich abgesperrt, Patrouillen schwärmen aus. Was mit gefaßten Flüchtlingen geschieht, wissen die Grenzbewohner zumeist nicht, oft interessiert sie das auch gar nicht.

Auch illegale Grenzgänger würden nicht mehr an die DDR ausgeliefert, hat Polens Außenminister Skubiszewski Hans Jochen Vogel während dessen Polen-Besuch versprochen, im Namen der ganzen Regierung. Zu Anfang nämlich waren nach offiziellen Angaben über 400 illegale Grenzgänger in die DDR ausgeliefert worden, weil die polnischen Grenztruppen, die dem Innen- und nicht dem Außenministerium unterstehen, Skubiszewskis Garantie, daß niemand gegen seinen Willen zurückgebracht werde, zuwiderhandelten. Erst nach einer energischen Intervention Skubiszewskis bei Innenminister Kiszczak hatte man sich geeinigt, daß zwar die Anweisung an die Grenztruppen nicht geändert wird, diese aber gewissermaßen „wegsehen“, wenn jemand die Grenze überschreitet. Wie aus gut informierten Kreisen in Warschau verlautet, habe sich auch DDR-Außenminister Oskar Fischer bei seinem jüngsten Warschau-Besuch damit einverstanden erklärt, vorausgesetzt allerdings, die Sache werde nicht an die große Glocke gehängt. Von offizieller polnischer Seite wurden denn auch keine Fälle mehr bekanntgegeben, in denen illegale DDR-Grenzgänger ausgeliefert worden seien.

Gegeben hat es sie trotzdem. Ein Grenzsoldat, darauf angesprochen, was denn mit festgenommenen Grenzgängern geschehe: „Entweder wir bringen sie ins Hauptquartier oder wir übergeben sie gleich da oben denen drüben.“ Er deutet in Richtung Westen, wo die Grenze von einem nur für die Grenztruppen zugelassenen Fahrstreifen unterbrochen wird. Marion D. (Name der Redaktion bekannt) hat genau das über sich ergehen lassen müssen. Sie ist am Freitag, 13. Oktober, - nach Skubiszewskis Zusage gegenüber Vogel - zwischen 12 und 13 Uhr über die Sperranlagen geklettert und hat an ein Haus in Stolec geklopft, um sich nach dem Weg nach Stettin zu erkundigen. Der 16jährige Andrzej Z. (s.o.) hat ihr geöffnet, Tee angeboten und ist dann zu seinem Lehrer in die Schule gelaufen, um sich zu erkundigen, was er tun soll. Doch als Andrzej nach Hause kam, mußte er feststellen, daß jemand anders bereits die Initiative ergriffen hatte. Die meisten Bewohner der Grenzorte betrachten es nämlich nach ihren eigenen Worten als „Bürgerpflicht“, Flüchtlinge zu denunzieren. „Das könnten ja Spione sein“, heißt es oft, obwohl zugleich in den DÖrfern überall davon berichtet wird, daß die DDR-Grenzorgane ausgelieferte Flüchtlinge brutal zusammenschlagen.

Je weiter von der Grenze entfernt, desto hilfsbereiter ist die polnische Bevölkerung Flüchtlingen gegenüber. Und außerhalb des unmittelbaren Grenzgebietes hat dann auch die polnische Grenzpolizei WOP nichts mehr zu sagen. Hätte Marion rechtzeitig den Bus nach Stettin erwischt, wäre sie in Sicherheit gewesen. So aber erfuhr eine Patrouille von ihr und nahm sie prompt fest. Andrzej allerdings begab sich kurz darauf zum örtlichen WOP-Kommandanten und erfuhr von ihm, daß man Marion an die DDR ausgeliefert hatte. Von ihm bekam Andrzej auch Name und Adresse des Mädchens.

Die 19jährige Marion D. ist tatsächlich wieder in ihrer Wohnung in Ost-Berlin aufgetaucht, haben Nachforschungen bei Bekannten ergeben. Und entgegen Andrzejs Befürchtungen ist sie wohl auch nicht im Gefängnis gelandet. In Stettin dagegen ist zum Thema Flüchtlinge nichts zu erfahren. Die polnischen Grenztruppen haben Redeverbot erhalten, um weitere Verstimmungen in Bonn und Ost-Berlin zu verhindern. Einigen polnischen Journalisten ist es allerdings gelungen, Nachforschungen unter den Soldaten der Grenztruppen durchzuführen. So gelang es denn auch, eine inoffizielle Bestätigung von Marions Geschichte durch einen hohen WOP -Offizier zu bekommen. Cezary Sicinski, Redakteur der westpolnischen Parteizeitung 'Gazeta Lubuska‘, hat bei seinen Recherchen an der Grenze bei Zielona Gora auch einige Details ausgegraben, die deutlich machen, warum das Innenministerium seinen Offizieren einen Maulkorb verordnet hat. In der Gegend um Zgorzelec beispielsweise habe eine zehn Mann starke DDR-Patrouille einen Flüchtling bis auf polnisches Gebiet verfolgt. Dieser Flüchtling wurde allerdings nicht ausgeliefert. Von WOP-Soldaten weiß Sicinski auch, daß die Grenze auf der DDR-Seite abgeriegelt ist wie nie zuvor: Neben Grenztruppen und Polizei habe man dazu auch Angehörige der Betriebskampfgruppen mobilisiert.

Seit der Fluchtbewegung aus der DDR werden DDR-Fahrzeuge oft stundenlang kontrolliert, polnische Zollbeamte und Bewohner der Grenzregion bestätigen übereinstimmend, daß durchschnittlich jeder zweite DDR-Wagen zurückgeschickt werde. Besonders junge Familien dürfen nur dann nach Polen einreisen, wenn sie ein Familienmitglied zurücklassen.