Abstand von der Realität

■ Postmoderne Positionen auf dem Marburger Dokumentarfilmsymposium

Der französische Filmtheoretiker Andre Bazin äußerte einmal, daß die Wirklichkeit wie eine Fliege im dokumentarisch -fotografischen Medium eingeschlossen sei. Das war noch vor Beginn einer neuen Dokumentarfilmära in den sechziger Jahren, vor der Einführung tragbarer Synchrontonkameras, die den journalistischen Zugriff auf die Wirklichkeit ermöglichten. Wie sehr sich solche Sprachbilder mit der Zeit relativieren, wurde auf einem Symposium zum Dokumentarfilm im Fernsehen der Bundesrepublik deutlich, das am 19. und 20. Oktober in Marburg stattfand. Nicht nur wie eine eingeschlossene Fliege bald auch eine tote Fliege ist und die Wirklichkeit sich aus ihrem Abbild alsbald verflüchtigt, sondern auch weil es Leute geben soll, die Fliegen nicht leiden können und mit den dafür geeigneten Gerätschaften „erledigen“.

Dokumentarfilmer, Fernseh-„Macher“ und WissenschaftlerInnen diskutierten an zwei Tagen erstaunlich versöhnlich die Problemlage eines Genres, dessen Überleben sie als bedroht ansahen. Heinz B. Heller, der Gastgeber des Symposiums und Leiter des DFG geförderten Teilprojekts Dokumentarfilm (Sonderforschungsbereich Bildschirmmedien), beschwor gleich in seinem Eingangsreferat die Liquidierung, ja gar die Abtreibung des eigenen Forschungsgegenstands aus den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Die bekannten Gründe waren auch bald ausgemacht, von Dokumentarfilmer Rolf Schübel (Rote Fahnen sieht man besser, 1971) apokalyptisch als Katastrophen verzeichnet: Diktat der Einschaltquoten, Ausgewogenheit, Zeit-ist-Geld-Philosophie und - last not least - die zunehmende Vernetzung und Spezialisierung von Fernsehprogrammen. Elmar Hügler, Leiter der Abteilung Kultur und Gesellschaft bei Radio Bremen, ließ keinen Zweifel aufkommen, daß sich an diesen Strukturen etwas ändern könne, „kulinarische Genüsse“ seien auch in Zukunft nicht zu erwarten. Fast-food ist einfach schneller zu konsumieren, das heißt mehr Sondersendungen, Features und kurze Magazinbeiträge, niemals länger als 43 Minuten.

Daß es zwischen Dokumentarfilmen und den hierfür verantwortlichen Redakteuren nicht zur Konfrontation kam, mag an der defätistischen Art und Weise gelegen haben, mit denen letztere - darunter der stellvertretende Chefredakteur für Politik und Fernsehen beim WDR Werner Filmer - ihre beängstigend strenge Personalhierarchie beschreiben. Von der Angst der „Schwabbelnden“ war da die Rede, die kräftigen Tritte von oben verstärkt nach unten weitergeben. „Deprimierend“ avancierte zum Schlüsselwort, und auch wenn zu vermuten war, daß solcherlei Klagen nur eine neue Variante darstellten, den Dokumentarfilmern den Wind aus den Segeln zu nehmen, tat der unvermutete Rollentausch seine Wirkung. Hieß es doch denjenigen Trost spenden, die ihn am allerwenigsten nötig zu haben schienen.

Das allgemeine Lebensgefühl, daß ein Stück Wirklichkeit verloren geht, machte Peter Krieg (Septemberweizen, Die Seele des Geldes) zum Ausgangspunkt einer Polemik, mit der er postmoderne Positionen auf den Dokumentarfilm anwandte. Von der absoluten Subjektivität unserer Wirklichkeitsvorstellung ausgehend, stellte er den Wahrnehmungsbegriff ins Zentrum seiner Überlegungen und forderte, den Mythos des Authentischen aufzugeben. Einen Ausweg aus dem Dilemma Authentizität schlug auch die Wissenschaftlerin Uta Berg-Ganschow vor. Sie führte die in der feministischen Filmtheorie entwickelte Rezeptionsforschung in den allgemeinen Diskurs ein, indem sie die Wirkung untersuchte, die bestimmte dokumentarische Formen auf die Zuschauer haben. Ein gleichberechtiges Verhältnis zwischen Autor und Zuschauer sah sie vor allem in jenen Filmen verwirklicht, in denen der Verlust eines festen Standpunktes den Autor zum Suchenden macht, etwa in den rekonstruktiven Interviewfilmen Eberhard Fechners und Marcel Ophüls.

Dimensionen von Wirklichkeit spürte der Fernsehkritiker Klaus Kreimeier in der Unschärferelation bestimmter Fernsehbilder auf. Die verschwommene schwarz-weiß Aufnahme des Unglücksreaktors in Tschernobyl - in Ermangelung anderen Materials wieder und wieder ausgestrahlt - lasse mehr vom Ausmaß des Schreckens erkennen als die sonst üblichen, hautnah fotografierten Sensationsbilder: den Schrecken des Nichtsichtbaren. Sollten einzig Störfälle noch geeignet sein, Licht auf die Utopie eines anderen Fernsehens zu werfen? Der Zusammenbruch der Ereignismaschinerie nach der Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion (1985) stundenlang keine Bilder übertragen wurden, legt dies ebenso nahe wie die Diskussion um eine Bilderzensur nach dem Tode Rainer Barschels. Fest steht jedenfalls, daß es seit Mitte der siebziger Jahre sowohl an einer umfassenden Theorie des Fernsehens fehlt, als auch an einer angemessenen Wahrnehmungsweise. Den Fernsehkritikern maß Kreimeier hier eine wesentliche Rolle zu. Sie sollten mehr konzeptionelle Programmkritik üben anstatt einzelne Fernsehsendungen als Serviceleistungen zu besprechen.

Claudia Tronnier