Einarmige Flieger und lebende Gummibälle

Bei den Turn-Weltmeisterschaften standen Sicherheit und Ausführung wieder im Vordergrund / Umstrittene Pflicht  ■  Aus Stuttgart Thomas Schreyer

Csaba Fajkosz aus Ungarn ging an das „Königsgerät“ der Kunstturner, das Reck, und schwang sich um die Eisenstange. Zuerst turnte er eine ganz normale Riesenfelge, dann eine einarmige, setzte plötzlich zu einem Flugteil an und fing sich wieder einarmig an der Stange. Dann drehte Fajkosz seine Riesenfelge weiter, als wäre nichts gewesen. Das Publikum atmete zunächst laut auf, schien erschrocken, angespannt, und spendete heftigen Applaus, als sicher war, daß der Teil gelungen war. Die Zuschauer feierten den ungarischen Gerätekünstler frenetisch und wollten folglich eine hohe Bewertung für ihn. Doch solche spektakulären Teile werden schon lange nicht mehr mit spektakulären Noten versehen. Etwa das Sechsfache des eigenen Körpergewichts wird bei einer solchen Übung gegen das Schultergelenk des Athleten gedonnert, was auf Dauer nicht gut sein kann. Der Internationale Turnerbund (ITB) nähme eine solche gesundheitsschädliche Entwicklung in Kauf, wenn die Kampfrichter Zusatzpunkte verteilen würden.

Das Beispiel Fajkosz gilt als Argument für all diejenigen, die eine Beibehaltung der Pflichtübungen fordern. Die Diskussion um die Abschaffung der Pflicht hat nämlich bei den Turn-Weltmeisterschaften in Stuttgart neue Nahrung erhalten. Einerseits durch den neuen Austragungsmodus während der Pflichtdurchgänge (Auflösung der Mannschaften), andererseits, weil Pflichtnoten nur noch für den Mannschaftswettbewerb herangezogen werden, Vornoten für Mehrkampf- oder Gerätefinals aber der Vergangenheit angehören.

„Ich hätte nichts dagegen, wenn sie wegfällt“, sagte der Teamchef des Deutschen Turnerbundes (DTB) Philipp Kurz. Er sagte, daß es Nachteile und Vorteile gebe, aber die letzteren überwögen. Es sei kaum vorstellbar, daß die Kür dann „ausufern“ würde, da die Steigerung des Schwierigkeitsgrades nur noch in kleinen Schritten erfolgen könne. Eberhard Gienger, DTB-Kunstturnwart und im ITB Mitglied der technischen Kommission, glaubt zwar auch, daß die turnerischen Fortschritte in kleinen Schritten erfolgen würden, plädiert aber eindeutig für die Pflicht: „Wir wollen sie unbedingt beibehalten.“ Nur noch Kür bedeute risikoreicheres Turnen. So brach sich ein chinesischer Turner am Reck beide Arme, weil er dachte, allein mit Risiko in die sowjetische Phalanx einbrechen zu können.

Bei den Weltmeisterschaften schien gerade das Männerturnen zu stagnieren. „Wir waren ein bißchen überrascht, daß da nichts Neues gekommen ist“, sagte Gienger. Die Zuschauer reagierten mit Enttäuschung darauf, daß die Sowjets so klar duchturnten, in ihren Übungen wenig Spannung lag. Kein Wunder, daß sie gerade bei den Vorführungen von Csaba Fajkosz ins Schwärmen gerieten. Der spektakuläre Flugteil dauert ja nur wenige Sekunden, und in dieser Zeit können sie sich wenigstens einen 500-Kilogramm-Stoß im rechten Schultergelenk vorstellen. „Daß nichts Neues kam, ist doch ein Zeichen dafür, daß die Turner ihre Pflichtübungen noch nicht richtig können“, vermutete Gienger. Für die Pflicht Grundübungen ohne Risiko und Gefahren - müßte noch zuviel Zeit aufgebracht werden.

„Schließlich kommt die Pflicht auch schwächeren Nationen entgegen“, fügte Bundestrainer Frank Heinlein hinzu. „Es sind vorgegebene Bewegungsabläufe, an denen sich orientiert werden kann. Hier haben auch schwächere Nationen die Möglichkeit, gut, sogar perfekt zu turnen.“ Gäbe es nur die Kür, klaffte die Leistungsamplitude der einzelnen Turnnationen noch weiter auf.

Die Tendenz im Kunstturnen geht - den Beobachtungen in Stuttgart zufolge - nicht dahin, dem Motto „Schneller, weiter, höher“ gerecht zu werden. Sicherheit und Ausführung stehen wieder im Vordergrund. Wird diese Entwicklung verfolgt, werden die Sowjets künftig kaum mehr mit über sieben Punkten Vorsprung Weltmeister werden wie 1989. Die Leistungsdichte wird zunehmen, der Wettkampf für die Zuschauer spannender und interessanter.

Ähnlich die Entwicklung im Frauenturnen, wo die Sowjets für eine radikale Wende gesorgt haben, vor allem durch ihre Bodenübungen. Wie schnell sich die „Wende“ jedoch durchsetzen kann, ist offen. Ausgerechnet im Bodenfinale entstanden Zweifel, als Cristina Bontas (Rumänien) besser bewertet wurde als Olessia Dudnik (UdSSR), und Daniela Silivas (Rumänien) neben Svetlana Boginskaja (UdSSR) auf dem Siegerpodest zu finden war. Kein Zweifel, Silivas hatte fehlerfrei geturnt, und Bontas zeigte waghalsigere Sprünge als Dudnik. Doch wer eine Entwicklung will, wie sie Svetlana Boginskaja verkörpert (Eleganz, Kunst und Schönheit), muß die Kampfrichter davon überzeugen, „lebende Gummibälle“ nicht überzubewerten.