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Börsenkrach in Berlin: Ende der „Neu York„-Vision

Am 24. Oktober 1929 brach der Glimmer auf Pump zusammen, die Weltstadteuphorie mündete in die Verelendung auch der Mittelschichten  ■  Von Michael Bienert

Der Schwarze Freitag, an dem einige Börsianer und Bankenbesitzer durch Fenstersprünge in die Wall Street das Zeitliche segneten, ist unter verschiedenen Daten in den Geschichtsbüchern vermerkt. Am 24. Oktober 1929, einem Donnerstag, beginnen die Kurse an der New Yorker Börse zu purzeln. Die Panik und der dadurch ausgelöste Rekordumsatz an Aktien erreichen ihren Höhepunkt am folgenden Dienstag, den 29. Oktober. Von diesem Tag an werden auch die deutschen Börsen stark in Mitleidenschaft gezogen. Das Ereignis markiert das Ende einer Phase relativer wirtschaftlicher und politischer Stabilität und den Auftakt der Weltwirtschaftskrise. Die einsetzende Rezession zieht auch das Alltagsleben Berlins in Mitleidenschaft. Sie trifft Berlin unvorbereitet, eine von den Jahren des Krieges und der Inflation noch gezeichnete Stadt, die sich an der Illusion berauscht, „Weltstadt“ zu sein.

Das Berlin der zwanziger Jahre ist Schauplatz einer großangelegten Inszenierung von Urbanität. Sie zielt, nach den Worten des leitenden Stadtbaurats Martin Wagner, darauf ab, eine „weltstädtische Bildwirkung“ im Betrachter hervorzurufen. Berlin, das internationale Aushängeschild der Weimarer Republik, versucht mit den Hauptstädten der Siegermächte des Ersten Weltkrieges zu konkurrieren, indem es sie imitiert. Auf dem Potsdamer Platz wird ein Verkehrsturm aus Übersee aufgestellt und im offiziellen Reiseführer als moderne amerikanische Verkehrsregelung gepriesen. Tucholsky beobachtet „einen tiefen Drang des Neudeutschen, sich so zu fühlen, wie er sich die Amerikaner vorstellt. Er kann leicht darauf verzichten, ein Kerl zu sein - aber in einer Stadt zu wohnen, die ein 'Ssitti‘ hat und ein 'Brodweh‘, det hebt ihnen.“ Der wichtigste Ort der Inszenierung ist der abendliche Kurfürstendamm: Dort verschwinden die bröckelnden Stuckfassaden hinter Travertin, Glas und Lichtreklamen, und so ziemlich jeder, der sich eines der seltenen und teuren Privatautos leisten kann, beteiligt sich am abendlichen „Weltstadtverkehr“. Einige Straßenecken weit gleicht sich Berlin an die massenmedial verbreitete Vision einer „Weltstadt“ an, die nur aus Glasfassaden, Lichtreklamen, Wolkenkratzern und schnittigen Karossen besteht. Die offizielle Parole gibt Oberbürgermeister Gustav Böß anläßlich einer von amerikanischen Städten abgeschauten „Lichtwoche“ im Herbst 1928 aus: „Ich weiß: Paris, London und Neu-York sind uns noch über. Bald müssen und werden wir sie eingeholt haben.“

Das Berlin zuvor, in den Jahren 1924 bis 1929, ist eine Weltstadt auf Pump - nicht nur in ideeller, auch in materieller Hinsicht. Finanziert werden die ehrgeizigen Weltstadtpläne, wie fast alle größeren Projekte in diesen Jahren, mit Hilfe amerikanischer Anleihen. Nach dem Börsenkrach sind nicht einmal mehr kurzfristige Kredite zu bekommen. Zinsen und Rückzahlungen werden fällig, die Steuereinnahmen sinken mit den Umsätzen, und mehr und mehr Arbeitslose fallen der städtischen Wohlfahrt zur Last. In dieser Situation müssen Schulen geschlossen, Leistungen eingeschränkt, Tarife öffentlicher Unternehmen erhöht werden, und im Mai 1931 wird gar der Elektrizitätslieferant Bewag, das letzte gewinnbringende Unternehmen der Stadt, verschachert. Alle diese Maßnahmen dienen nicht dazu, die Lage der Arbeits- und Obdachlosen zu verbessern, sondern der Tilgung der Schulden. Damit schliddert die Stadt aus der Weltstadteuphorie in die soziale und politische Katastrophe. Wie andere Städte hätte sie irgendwann ihre Zahlungsunfähigkeit erklären müssen, wäre sie nicht vom Reich, ihrer repräsentativen Funktion wegen, gestützt worden.

Daß es mit der Phase kreativer wirtschaftlicher Stabilität zu Ende geht, ist schon vor dem Börsenkrach dort fühlbar, wo die Krise die ersten Opfer fordert: in den Betrieben, wo die Angst vor Entlassungen umgeht und der Lohndruck zunimmt, in den ärmeren Vierteln und auf den Arbeitsnachweisen, wo sich mehr und mehr Entlassene drängen. Schon seit 1928 steigen die Arbeitslosenzahlen. Während die Weltstadteuphorie in den bessergestellten Schichten, in Teilen der Verwaltung und in der bürgerlichen Intelligenz ihren Höhepunkt erreicht, wächst bereits die materielle Not in der Stadt. Auf die verschärften politischen Spannungen reagiert der sozialdemokratische Polizeipräsident Zörgiebel mit einem unbefristeten Demonstrationsverbot. Erwerbslosenversammlungen werden auseinandergetrieben, und als am 1. Mai 1929 die kommunistischen Arbeiter auf die Straße gehen, richtet die Polizei in einigen Arbeiterquartieren ein Blutbad an.

Wer noch nicht unmittelbar davon betroffen ist, nimmt die schleichende Verelendung weiter Bevölkerungskreise in den ersten zwei Krisenjahren nach dem Börsenkrach kaum zur Kenntnis. Erst danach entfaltet die Krise ihre ganze Wirkung im Stadtbild. Viele Läden und Großwohnungen im bürgerlichen Westen werden von ihren verarmten Mietern geräumt. Arbeitslose und Bettler füllen die Straßen, wie in der Inflationszeit nehmen sich viele Mittellose, die keinen Ausweg mehr sehen, das Leben. Die Krise erfaßt das Alltagsleben sämtlicher Bevölkerungsschichten und bedroht ausnahmslos alle mit materiellem Ruin und sozialem Abstieg.

„Unser Lebensgefühl ist fast nur noch Krisengefühl“, notiert Hermann Ullmann in seiner 1932 erschienenen Aufsatzsammlung Los von Berlin? Politik, Intelligenz und Bevölkerung zeigen eine bemerkenswerte Unfähigkeit, mit der allgemeinen materiellen Not und dem Krisengefühl umzugehen. Feindbilder und Projektionen beherrschen auch die Wahrnehmung der politischen Gruppierungen in der Stadt. Es gibt Krisen, in denen die Bevölkerung enger zusammenrückt und die Menschen sich über gewohnte Grenzen hinweg gegenseitig das Leben erleichtern; in den frühen dreißiger Jahren ist das nicht der Fall. Die Menschen versuchen, ihre angespannte Lage vor sich und anderen zu verbergen. In den oberen Etagen der Gesellschaft wird heimlich gespart und öffentlich geprunkt. Die proletarisierten und geistig obdachlosen Mittelschichten isolieren sich weiterhin von der Arbeiterschaft, deren materielle Situation sie längst teilen, und klammern sich an kleinbürgerlichen Sehnsüchten fest. Verbreitet sind Gefühle des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht, die Flucht in Illusionen und Ideologien. Die Nationalsozialisten sind am geschicktesten darin, die verängstigten Menschen an sich zu binden und sich in der politischen Agonie als Retter in der Not zu profilieren.

Ende 1932 meldet die Statistik 636.000 Arbeitslose in Berlin. Über das Stadtbild schreibt Heinrich Hauser: „Die Straßen Berlins sehen wie Armeleute-Wäsche aus: zerschlissener Asphalt, mit Pflastersteinen ausgeflickt, unsauber, wellig, schlecht 'gebügelt‘. Verfallen wirken die Häuser, an denen keine Reparaturen mehr gemacht werden. Armselig ist die Beleuchtung der Straßen, spärlicn auch die Lichter in den Wohnungen. Es sind nur mehr zwei oder drei Straßen, die noch etwas vom 'strahlenden Glanz der Großstadt‘ haben. Wie schlecht getuschte Farben leuchten ihre Lichter noch ein paar Häuser weit in die Nebenstraßen hinein; dann ist die Häuserwüste meilenweit wieder tot und erloschen. Berlin geht in Lumpen.“

So sieht das „rote“ Berlin aus, als es von den Nazis Anfang 1933 besetzt wird. Daß es ihnen gelang, bis Mitte der dreißiger Jahre eine breite Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu bringen, wird begreiflich durch die Verwüstungen der Weltwirtschaftskrise. Mochte die politische Verfolgung auch zunehmen: Für alle, die davon nicht betroffen waren, wirkten der Abbau der Arbeitslosigkeit und die erzwungene Ruhe und Ordnung nach den zurückliegenden Erfahrungen erlösend. Erst die nachfolgenden Katastrophen haben den Börsenkrach von 1929 dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt.

Ein Buch des Autors über Berlin-Beschreibungen im Feuilleton der Weimarer Republik, auf dem diese Darstellung beruht, wird im kommenden Jahr erscheinen.

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